'Alle meine Kinder'
verabreicht worden, ohne dass es dort zu einem Ausbruch von Aids gekommen wäre.
Und dann gab es da noch die unbestreitbare Tatsache, dass zwei unterschiedliche Aids-Epidemien - verursacht durch HIV-1 und HIV-2 - Tausende von Kilometern voneinander entfernt auftraten, die erste ausgelöst durch ein Schimpansen-Virus, die zweite durch ein Rauchmangaben-Virus. Der Wistar-Impfstoff konnte nicht für beide verantwortlich sein.
Hoopers interessante Theorie über den verunreinigten Polio-Impfstoff beantwortet nicht alle Fragen, und nach wie vor gibt es keinen Beweis dafür.
In den 1950er-Jahren fanden in den Gebieten Zentralafrikas, die man inzwischen als Entstehungsort von HIV/Aids betrachtet, neben der Erprobung eines Impfstoffs gegen Kinderlähmung auch noch andere medizinische Tests statt. Bei einer weiteren überzeugend klingenden, iatrogenen Theorie richtet sich das Augenmerk auf die Kreuzzüge zur Massenimmunisierung, die auf dem afrikanischen Kontinent durchgeführt wurden, ohne dass man der Verwendung steriler Instrumente die erforderliche Aufmerksamkeit schenkte.
In der Nachkriegszeit, »einer Zeit des überbordenden medizinischen Optimismus«, wie Carlsen anmerkt, starteten die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Vereinten Nationen und andere Hilfsorganisationen beispiellose und ambitionierte Impf- und Behandlungsprogramme gegen angeborene Syphilis, Tuberkulose und Frambösie (eine in den Tropen auftretende Erkrankung von Haut, Knochen und Gelenken, die von Mücken übertragen wird und hauptsächlich Kinder befällt). »Bei diesen Kampagnen handelte es sich um eine medizinische Intervention in einem bis dato auf dem afrikanischen Kontinent noch nie da gewesenen Ausmaß«, berichtet Carlsen, »aber das hehre Ziel, Krankheiten auszurotten, wurde durch das häufige Versäumnis, für sterile Injektionen zu sorgen, zunichtegemacht, und die Folgen dieses Versäumnisses könnten verheerend sein.«
Injektionsspritzen waren 1848 erfunden worden: damals waren sie teure und kostbare medizinische Instrumente, aus Glas und Metall von Hand gefertigte Einzelstücke. Man konnte sie sterilisieren. 1920 wurden weltweit nur 100 000 Spritzen hergestellt. Nach dem Ersten Weltkrieg, als die Zahl der Verwendungsmöglichkeiten stieg (wie Insulininjektionen), begann die Massenproduktion von Spritzen. Um 1930 wurden jährlich zwei Millionen Stück hergestellt, und bis 1952 stieg die Zahl auf 75 Millionen. Der Preis sank währenddessen kontinuierlich. Mit der Entdeckung des Penicillins im Jahr 1929 wuchs ihre Bedeutung noch einmal beträchtlich.
Penicillin war ein Wundermittel; bis 1941 hatte die davon produzierte Menge jedoch lediglich für die Behandlung von 200 Menschen gereicht. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die technischen Möglichkeiten für eine Massenproduktion geschaffen (was dem Entdecker des Penicillins und den beiden Wissenschaftlern, die es als Erste im industriellen Maßstab herstellten, den Nobelpreis einbrachte). Zwischen 1949 und 1964 stieg die Produktion des Antibiotikums in den Vereinigten Staaten von 76 000 Pfund auf 170 Millionen Pfund und der Preis sank von 1144 Dollar auf 49 Dollar pro Pfund. Eine Penicillinbehandlung war untrennbar mit Injektionen verbunden, da Antibiotika zur oralen Einnahme noch in der Entwicklungsphase waren.
Die Herstellung von injizierbaren Antibiotika und von Injektionsbestecken in größerem Maßstab begann zur gleichen Zeit. Zwischen 1950 und 1960 wurden Spritzen aus Glas und Metall weitgehend durch Einwegspritzen aus Plastik abgelöst. Im Jahr 1960 wuchs die produzierte Menge um das Hundertfache auf eine Milliarde Stück pro Jahr an.
Die Massenproduktion von Penicillin ging Hand in Hand mit der Massenproduktion von Spritzen, und beide traten den Weg nach Afrika an, um dort gute Werke zu vollbringen.
Die UNICEF beschreibt die damalige »Begeisterung darüber, Krankheiten mit technischen Neuerungen zu begegnen«:
Ende der 1940er- und Anfang der 1950er-Jahre war das oberste Ziel internationaler Gesundheitskampagnen im Allgemeinen der Kampf um die Kontrolle oder Beseitigung epidemisch auftretender Krankheiten. Diese Kampagnen gehörten zu den ersten und zweifellos aufsehenerregendsten internationalen Hilfsleistungen, die nicht im Zusammenhang mit einem Krieg standen […] Neue Medikamente und Impfstoffe wurden immer billiger und boten zum ersten Mal in der Geschichte die Aussicht, dass uralte Menschheitsplagen ausgelöscht werden konnten, ohne dass man darauf warten
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