'Alle meine Kinder'
freuten sich, von ihr zu hören. Der Strom von Einladungen riss nicht ab, bis sie ihnen mitteilte, was sie vorhatte: ein Mädchen von der Straße bei sich aufzunehmen.
»Was? Hast du den Verstand verloren, Haregewoin? Ich dachte, du wolltest wieder arbeiten gehen«, sagte die eine. »Ich dachte, du gehst vielleicht auf Reisen - es würde dir guttun«, sagte die andere. »Willst du denn nicht zurück nach Kairo?«, fragte eine dritte. »Haregewoin, das solltest du nicht machen«, sagte eine vierte mit Nachdruck. Sie waren die kollektive Stimme einer noch in Sicherheit lebenden Mittelschicht, Frauen, die damit beschäftigt waren, sich von der Katastrophe fernzuhalten, die gerade das Land überrollte.
»Das Mädchen taugt nichts«, sagten sie alle.
»Ich will sie mir erst mal ansehen«, erwiderte Haregewoin. »Wenn sie nichts taugt, schicke ich sie wieder weg.«
Genet war klein und kräftig, kaum größer als Haregewoin. Ihre glatte helle Haut und ihre breite Nase waren mit Sommersprossen übersät; sie hatte eine hohe Stirn und fast nicht zu erkennende Augenbrauen. Ihre hellbraunen Augen waren grau gesprenkelt, die ungewöhnliche Farbe schien ihrem Blick etwas Argwöhnisches zu verleihen. In ihrem ganzen Gebaren lag etwas Tieftrauriges. Sie trug ein zu großes gelbes Männer-T-Shirt, weite Khakihosen und Plastik-Flipflops, und dazu eine völlig unpassende, zu enge Kleinmädchenweste aus Jeansstoff mit Spitzenbesatz.
Ihre braunen Haare waren verfilzt und achtlos zurückgebunden. Als sie Haregewoin vorgestellt wurde, warf sie sich auf den Boden und küsste Haregewoins Schuhe.
Als fünfzehnjähriges verwaistes äthiopisches Mädchen war Genet im höchsten Maße gefährdet, sich mit HIV zu infizieren. Mädchen hatten in Äthiopien schlechtere Bildungs- und Berufschancen als Jungen, und sie verfügten über keine Eigentumsoder Erbrechte. Ein verwaistes Mädchen verlor den Schutz seines Vaters; wenn sie ihre Eltern durch Aids verlor, konnte es passieren, dass sie ihr Zuhause, ihre Schule und ihr Dorf verlassen musste.
»Verwaiste Mädchen werden völlig an den Rand gedrängt«, erklärte ein Sprecher der UNICEF. »Sie kommen an allerletzter Stelle. Es besteht eine sehr große Wahrscheinlichkeit, dass sie sich irgendwelchen Risiken aussetzen, um zu überleben. 64 In Afrika und Asien besteht eine ausgeprägte Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, und Männer glauben das Recht zu haben, Mädchen und Frauen herumzukommandieren, zu belügen, unter Druck zu setzen, bezahlten Sex von ihnen zu verlangen, sie zu vergewaltigen, jung zu heiraten, mehrere Frauen zu haben und Frauen und Mädchen zu betrügen. Eine von den französischen Epidemiologen Garonne, Micol und Fontanet durchgeführte Studie über junge Frauen in Städten in Kenia und Sambia ergab, dass sechs Prozent der Frauen im Alter von 15 Jahren mit HIV infiziert waren, 13 Prozent mit 16, 20 Prozent mit 17, 24 Prozent mit 18, 30 Prozent mit 19 und 40 Prozent mit 20 Jahren.
Haregewoin half ihr auf die Beine. »Schon gut, schon gut«, murmelte sie. »Meinst du, du würdest gern eine Zeit lang bei mir wohnen?«
»Ja, bitte, waizero «, sagte das Mädchen mit gesenktem Blick.
»Das ist eine großartige Chance für dich, Genet«, sagte der Mann von MMM. »Sei ein braves Mädchen. Du musst Waizero Haregewoin Respekt zeigen, du musst ihr helfen.«
Die müden Augen des Mädchens huschten kurz über Haregewoins Gesicht, skeptisch.
Genet war eine Mischung aus Ungestüm und Unsicherheit. In dem einen Moment sprang sie herum wie ein junger Hund, im nächsten war sie still und ängstlich. Aus der Nähe sah Haregewoin, dass ihr Gesicht nicht nur mit Sommersprossen gesprenkelt war, sondern auch mit kleinen hellen Narben; auch auf ihren kräftigen Händen und Armen waren Narben - vielleicht von einem Herdfeuer? Auf dem Land trugen viele Kleinkinder Verbrennungen davon, weil sie den Feuerstellen zu nahe kamen. Vor der Tür zu Haregewoins Haus zögerte sie, schaffte es nicht weiterzugehen. Haregewoin, der die Angst des Mädchens nicht entging, kramte in ihrer Handtasche, klemmte sich die Tüte mit den Lebensmitteln erst unter den Arm, dann drückte sie sie Genet in die Hand, ächzte ein wenig. »Hilf mir mal, bitte«, sagte sie und tat so, als könnte sie nicht gleichzeitig ihre Handtasche halten und die Tür aufschließen.
»Wer wohnt hier noch?«
»Ich bin hier ganz allein.«
»Gehört Ihnen das ganze Haus?«
»Ich habe zwei Töchter, aber... sie wohnen zurzeit nicht
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