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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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er.
    Haregewoin verstand nicht. »Noch ein Kind?«
    »Können Sie einen Jungen bei sich aufnehmen?«
    »Oh!«
    »Er ist auch Waise. Ungefähr so alt wie Genet.«
    »Hm.«
    »Er hat niemanden... Er lebt auf der Straße.«
    Sie musste einen Moment nachdenken. Sie schlief in dem einen Zimmer, Genet in dem anderen - dem ehemaligen Krankenzimmer. Es gab ein Nebengebäude mit Betonboden und ohne irgendein Möbelstück; es war besser, wenn Genet mit in ihr Zimmer zog und sie dem Jungen Atetegebs Zimmer gab. Genet wäre zwar wahrscheinlich nicht gerade erfreut, zusammen mit Haregewoin in einem Bett zu schlafen, aber es ließ sich machen.
    »Bringen Sie ihn her.«
    Abel war ein klapperdürrer, in die Höhe geschossener junger Mann mit hängenden Schultern; auf seiner Oberlippe spross ein spärliches Bärtchen. Er kam vom Land, aus Harar. Er war nie im Leben fünfzehn Jahre alt, dachte Haregewoin, er musste siebzehn oder achtzehn sein. Sein Hemd war an den Ärmeln zu kurz, und die Hosenbeine reichten ihm nicht mal bis zu den Knöcheln. Er begrüßte Haregewoin und Genet mit einer so tiefen Bassstimme, dass beide lachen mussten; dann bekamen sie von ihm einen schlaffen Händedruck, dabei entblößte er kurz seine vorstehenden Schneidezähne, indem er die Oberlippe nach oben zog - das sollte vermutlich ein Lächeln darstellen; dann schlurfte er in Atetegebs Zimmer, ließ sich bäuchlings auf das Bett fallen, die Füße über den Rand hinausgestreckt, und schlief zwei Tage durch. Am Morgen des übernächsten Tages bemerkte Haregewoin, dass unter seiner Tür Rauch hervordrang; sie stieß sie auf und sah Abel wach im Bett sitzen, das Kissen im Rücken, eine Hand hinter dem Kopf, in der anderen eine Zigarette. Er klopfte die Asche auf den Boden.
    » Nein, nein, nein , das kommt gar nicht in Frage«, fuhr sie ihn an, und eilte durch das Zimmer. Sie packte ihn und warf ihn mitsamt der Decke, der Zigarette, der Asche aus dem Bett. »Mach die aus. Wasch dich. Hier drin stinkt es!« Sie riss das Fenster auf und wedelte in der Luft herum, ganz so wie Mütter ihre Söhne seit Generationen unverdrossen, aber völlig fruchtlos nerven. Sie schleifte ihn praktisch an seinen Gürtelschlaufen über den Hof zu der Duschkabine. »Wasch dich. Dann reden wir.« Genet blickte überrascht auf, als Abel an ihr vorbeihastete.
    Haregewoin bereitete Abel sein Frühstück zu. Er aß, ohne dabei zu schlingen. Seine Bewegungen waren bedächtig.
    »Gehst du zur Schule?«
    »Nein, ich bin fertig.«
    »Welche Klasse?«
    »Dritte.«
    »Arbeitest du?«
    Er zuckte die Schultern.
    »Was hast du vor?«
    Er zuckte die Schultern.
    »Du wirst wohl arbeiten gehen müssen.« Sie nannte ihm die Adresse einer kleinen Ziegelei in der Nähe. Sie packte ihm etwas zu essen ein. »Geh hin und frag, ob sie Arbeit für dich haben. Der Besitzer ist ein Freund von mir.«
    Mit langen, steifen Schritten, als ginge er auf Stelzen, verließ er das Haus. Spätabends kam er zurück, völlig benebelt und mit geröteten Augen. Er hatte irgendwelche Drogen genommen.
    »Hast du Arbeit bekommen?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Hast du sie nach Arbeit gefragt?«
    »Wen?«, fragte er verdrießlich.
    »In der Ziegelei.«
    »Nein. Ich habe sie nicht gefunden.« Er machte sich auf den Weg in sein Zimmer.
    »Abel!«, bellte sie. Er blieb abrupt stehen, drehte sich aber nicht um.
    »Was hast du geraucht?«
    »Nichts.«
    »Ich bin nicht dumm, Abel. Du hast tumbaco geraucht. War es das, womit du den ganzen Tag verbracht hast? Ich kann es doch riechen.«
    »Nein«, sagte er, ging in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Tumbaco war eine Art Haschisch; es wuchs in Abels Heimat Harar und wurde in Addis Abeba an jeder Ecke auf dem Schwarzmarkt verkauft.
    Am nächsten Morgen weckte sie ihn spät am Vormittag, nachdem er sechzehn Stunden geschlafen hatte. »Hast du keinen Hunger?«
    »Nein, waizero «, sagte er, nicht unfreundlich. Er stand auf, zog sich an und machte sich auf den Weg zur Tür.
    »Iss etwas, Abel!«, rief sie. Sie war zerknirscht, weil ihre ersten Begegnungen so missglückt waren.
    »Nein danke«, rief er über die Schulter. »Kein Hunger!«
    Das tumbaco vertrieb seinen Hunger, dachte sie. Viele arme Leute rauchten es aus genau diesem Grund; es war billiger als Essen.
    Er blieb diese Nacht fort und auch die nächste. Als er am übernächsten Tag zurückkehrte und durch den Flur zu seinem Zimmer schwankte, war ihr klar, dass sie ihn nicht aus den Augen lassen durfte.
    »Halt!«, rief

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