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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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hier. Schau, du kannst dieses Zimmer haben.«
    Genet betrat langsam und vorsichtig Atetegebs Zimmer. Das Mädchen traute sich nicht, das Bett zu berühren, als wäre das zu unverfroren. »Da schläfst du«, sagte Haregewoin knapp.
     
    Genet besaß nichts.
    Haregewoin fand ein bodenlanges Schlupfkleid aus Baumwolle, das einer ihrer Töchter gehört hatte. Sie führte Genet zu der Duschkabine im Freien, bemerkte deren Verblüffung, drückte ihr ein Stück Seife in die Hand, deutete auf die Flasche Shampoo auf dem Betonboden und dann drehte sie noch den Hahn für sie auf. Später saß Haregewoin auf einem Küchenstuhl, und das Mädchen hockte nach Seife riechend und barfuß im Schneidersitz vor ihr auf dem Boden. Haregewoin bearbeitete ihre Haare mit einer Bürste. Sie rieb Conditioner hinein und nach und nach schaffte sie es, die verfilzten Knäuel zu trennen, als würde sie Wolle aufdröseln, sie rollte die Strähnen zwischen den Fingern hin und her und flocht sie zu ordentlichen Zöpfen. Als sie fertig war, wollte Genet sofort verschwinden, warf Haregewoin aber noch einen Blick über die Schulter zu.
    »Moment«, sagte Haregewoin, winkte sie zu sich und drückte ihr ein wenig Feuchtigkeitslotion aus einer Tube auf die Handfläche.
    Ein frisch gewaschenes sommersprossiges Mädchen saß schüchtern vor seinem Teller. Haregewoin gebot ihr zu warten, bis das Tischgebet gesprochen war, dann nickte sie, und sie fingen an zu essen. Genet beugte sich tief über den Teller und schaufelte sich das Essen in den Mund und schlang es so schnell und schmatzend hinunter, dass Haregewoin sie entsetzt ansah. Genet stopfte alles in sich hinein, was in Sichtweite stand; sie verschlang die injera, dinich wat (Kartoffeleintopf), doro wat (scharf gewürzter Hühnereintopf), ein von der Soße orange gefärbtes hart gekochtes Ei, dann noch eins, und den größten Teil einer in Scheiben geschnitten Mango. Sie schob ihren Stuhl zurück, rülpste, lachte, sprang auf, räumte den Tisch ab, wusch das wenige Geschirr und rannte in ihr Zimmer.
    Haregewoin wurde allmählich bewusst, was sie dem Mädchen angetan hatte: Sie hatte es gezwungen, einkaufen zu gehen, sein Zimmer zu beziehen, zu duschen, sich die Haare frisieren zu lassen und sogar den Kopf zum Gebet zu senken - und während der ganzen Zeit war Genet hungrig gewesen.
    Diesen Fehler würde sie kein zweites Mal machen. Falls sie jemals wieder jemanden bei sich beherbergen würde, wüsste sie Bescheid: im Zweifelsfall zuerst zu essen geben.
     
    Genet nutzte in diesen ersten Wochen jede Gelegenheit, zusammen mit Haregewoin aus dem Haus zu gehen, und dann betrachtete sie mit leuchtenden Augen die Auslagen im Lebensmittelgeschäft oder in der Apotheke oder beim Bäcker; in ihrer Begeisterung lief sie praktisch mit ausgebreiteten Armen die Gänge zwischen den Regalen auf und ab. Nie bat sie Haregewoin um etwas, sondern richtete stets nur ihren begehrlichen Blick auf irgendetwas - eine Plastikhaarbürste, eine Hose, eine Uhr, manchmal auch etwas völlig Fremdartiges wie eine Kamera oder einen Feldstecher - und stand dann breitbeinig und mit offenem Mund da wie hypnotisiert, bis Haregewoin es merkte und ihr das Geschenk kaufte. Haregewoin fand dieses Verhalten lästig.
    Wenn Haregewoin sah, dass Genets Hand vorschoss, um einen Lippenstift zu klauen, packte sie das Mädchen an der Schulter und schob es zur Ladentür hinaus. Genet schmollte dann auf dem ganzen Weg zurück zum Auto, stampfte beim Gehen mit den Füßen auf, runzelte die Stirn. Wenn sie durchs Haus stapfte und die Tür zu Atetegebs Schlafzimmer hinter sich zuknallte, kochte Haregewoin Tee, setzte sich an den Küchentisch und lachte über der dampfenden Tasse leise vor sich hin. Sie ließ sich von Genets Wutausbrüchen nicht aus der Ruhe bringen. Ich hatte früher mal zwei Töchter im Teennageralter , dachte sie.
    An den Sonntagen wies Haregewoin das Mädchen an, pünktlich aufzustehen, sich anzuziehen und mit ihr zur Kirche zu gehen. In den ersten Wochen, als Genet noch lieb sein wollte, ging sie ohne Widerspruch mit. Doch dann fing sie plötzlich an, sich zu verweigern, kauerte während der Fahrt stumm wie ein Fisch auf dem Beifahrersitz und saß wütend auf der harten Bank in der Kirche. (Da eine katholische Organisation Genet gerettet hatte, erschien es Haregewoin angemessen, dass sie beide dort den Gottesdienst besuchten.) Wenn die anderen Kirchgänger die Köpfe zum Gebet senkten, reckte Genet widerspenstig das Kinn in die Höhe.

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