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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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Haregewoin verdrehte die Augen. Vielleicht würden sie im Lauf der Zeit Zuneigung zueinander entwickeln.
    Dann sprang Genet eines Sonntagmorgens aus dem Bett und zog sich bereitwillig an. Sie strich sich die Haare zurück und legte etwas Rouge auf Wangen und Lippen auf (woher hatte Genet Make-up?). Während des Gottesdienstes schien sie tatsächlich zu beten und faltete ihre kräftigen sommersprossigen Hände. Als sie darum bat, draußen auf dem Kirchhof auf Haregewoin warten zu dürfen, schien das ein völlig unschuldiges Ansinnen, aber sie hatte ihre Gründe.
    MMM half den armen Familien im ganzen Viertel, deshalb versammelten sich auf dem Kirchhof immer Bettler und Waisen in der Hoffnung auf ein bisschen Essen oder einen Birr von einem der Kirchgänger. Eine Woche zuvor hatte Genet von der Treppe aus ihre alten Freundinnen entdeckt, verwaiste Mädchen, die völlig verzweifelt waren, so wie sie selbst noch vor zwei Monaten gewesen war. Sie waren die Ärmsten der Armen im Sexgeschäft: Sie erhielten nicht einmal von den Besitzern von Bier- oder Weinläden die Erlaubnis, Gäste zu bedienen, sie waren nichts als »Straßenmädchen«. Als Genet jetzt die Treppe herunterkam, kreischten ihre Freundinnen und rannten zu ihr hin. Sie bewegte sich zwischen ihnen wie eine Berühmtheit: Sogar der Hauch von Lippenstift rief bei den anderen Mädchen Bewunderung hervor; dass sie richtige Schuhe trug statt Flipflops, machte sie zur Modekönigin. Als Haregewoin sie rief und Genet davonschwebte und auf der Beifahrerseite ins Auto stieg, winkte sie ihnen zum Abschied zu, wie jede Jugendliche auf der Welt es tat, die sich im Einkaufszentrum von ihren Freundinnen verabschiedet, um mit ihrer Mutter nach Hause zu fahren.
    »Komm zu uns zurück«, drängten die Mädchen Genet am darauffolgenden Sonntag. »Oder gefällt es dir etwa, bei der da zu wohnen?«
    »Es ist schon in Ordnung«, sagte Genet und verteilte die Brötchen, die sie mitgebracht hatte.
    »Na, dann besuch uns wenigstens.«
    »Ich kann wirklich nicht. Sie lässt mich abends nicht mehr aus dem Haus.«
    »Du meinst, du bist ihre Gefangene?«, fragten die Mädchen ungläubig.
    Sie schnalzten mitleidig mit der Zunge. Plötzlich verwandelten sich ihr Neid und ihre Bewunderung in Überlegenheit. Das war gemein! Das hielt sie nicht aus. Genet - die vor sechs Monaten so verzweifelt und demütig und am Ende gewesen war - schien sich jetzt an einzelne Momente ihrer verlorenen Freiheit zu erinnern. Sie vergaß die gelegentlichen Gewalttätigkeiten, vergaß den Angriff des widerwärtigen Kerls, dem sie es zu verdanken hatte, dass sie bei MMM gelandet war, verdrängte, dass sie jedes Mal ihr Leben riskierte, wenn sie sich auf ungeschützten Sex einließ, und begann davon zu träumen, wie es gewesen war, Geld zu haben. Warum sollte sie nicht das Beste aus beiden Welten haben - ein Dach über dem Kopf, Essen und ein Bett bei Haregewoin und die 50 Cent in der Woche, die ihr das eine oder andere Stelldichein einbrachte? Sie könnte sich nachts davonschleichen und vor dem Morgengrauen wieder zurück sein, ohne dass die Alte etwas davon mitbekam. Dann würden sie die anderen Mädchen nicht mehr als »Gefangene« bezeichnen.
    Das erste Problem bestand darin, dass die schlaue Haregewoin das Hoftor nachts abschloss und den Schlüssel mit ins Bett nahm. Genet unternahm ein paar Versuche, die Wände aus Wellblech, die den Hof umgaben, zu überwinden, schrammte sich jedoch die Knie auf, als der Efeu, an dem sie sich festhielt, abriss. Sie schaffte es auch nicht, sich an den niedrigsten Ästen des Eukalyptusbaums hochzuziehen, um über den Zaun zu springen, wie sie es als Kind gekonnt hätte, sondern zerkratzte sich dabei nur die Oberschenkel. Also bot sie an, abends Besorgungen zu erledigen, in der Hoffnung, auf diese Weise aus dem Haus zu kommen. »Soll ich schnell gehen und Tee für morgen früh kaufen?«, fragte sie wie eine gute Tochter.
    »Nein, Liebes, ich habe noch Tee.«
    »Ich hätte gern ein Glas Milch! Haben wir Milch? Ich glaube nicht.«
    »Wir haben Milch. Geh ins Bett, Genet.«
    »Wir brauchen Reis!«
    »Geh ins Bett, Genet.«
    »Ich gäbe sonst was für eine Zigarette!«, entfuhr es Genet eines Abends. Aber das war wohl ein Fehler gewesen, denn es brachte ihr nur einen langen Blick über die Lesebrille hinweg ein, der zugleich missbilligend und betrübt war.

15
    Sechs Wochen nach Genets Ankunft rief der Leiter von MMM Haregewoin erneut an. »Wir haben noch ein Kind«, sagte

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