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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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    Vielleicht war Aids also älter und sehr viel tiefer verankert, als irgendjemand gedacht hatte. Möglicherweise war es gar kein neues Syndrom, unter dem Homosexuelle und Drogensüchtige im Westen litten, sondern hatte seine Ursprünge in Afrika. Dr. Halfdan Mahler, Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation, warnte 1985, es wäre durchaus möglich, dass schon zehn Millionen Menschen infiziert seien.
    Als sich der Ursprungsherd der Krankheit und die Herkunft der Opfer von New York und Paris nach Uganda und in die Demokratische Republik Kongo verschoben, verlor die Öffentlichkeit zunehmend das Interesse an Aids. Dass die meisten Aids-Patienten keine Schwulen waren, sondern Afrikaner , berührte die Menschen im Westen und auch die spendenfreudigen Reichen nicht. Die Krankheit erlangte auch für die Regierungen keine höhere Priorität, nicht einmal für die afrikanischen, mit wenigen Ausnahmen.
    Eine solche Ausnahme war Uganda. Bald nach dem Umsturz 1986, der Yoweri Museveni ins Amt brachte, schickte der ehemalige Guerilla-Führer 60 seiner besten Offiziere zur Ausbildung nach Kuba.
    »Auf einer Konferenz in Simbabwe einige Monate später trat Fidel Castro an Museveni heran und überbrachte ihm eine schlechte Nachricht: Bei Untersuchungen in Kuba hatte sich herausgestellt, dass 18 der 60 Offiziere HIV-positiv waren. ›Bruder‹, sagte Castro zu Museveni laut der Version der Geschichte, die der ugandische Regierungschef gern vor Besuchern zum Besten gab, ›da hast du ein Problem.‹«
    Die Bedrohung, der seine Armee ausgesetzt war, machte Präsident Museveni klar, dass gehandelt werden musste. Er veranlasste, dass sein Land sich gegen die Aids-Epidemie mit einem Programm wappnete, das den Spitznamen ABC trug: »Abstain, Be faithful, or wear a Condom« (»Halt dich zurück, sei treu oder benutz ein Kondom«); am bekanntesten wurde ein Slogan für eheliche Treue, der auf Reklametafeln im ganzen Land verbreitet wurde: »Zero Grazing«, was in der Landwirtschaft bedeutet, dass das Vieh nicht auf die Weide gelassen wird.
    HIV/Aids wütete in ganz Afrika, wo es in erster Linie durch heterosexuellen und nicht homosexuellen Geschlechtsverkehr, durch mangelnde Sterilität bei Impfungen, Bluttests, Geburten und Bluttransfusionen übertragen wurde.
    Aber auch hier herrschte dieselbe Meinung in der Öffentlichkeit wie in den ersten Jahren in Amerika: Es muss eine Krankheit sein, die Sünder trifft (die religiöse Sichtweise) oder Leute mit einem ausschweifenden Sexleben (die säkulare Sichtweise) oder promiske Sünder (eine Kombination beider Sichtweisen).
    1999 schätzte UNAIDS, dass weltweit 33 Millionen Menschen mit HIV/Aids lebten und 16,3 Millionen Menschen an der Krankheit gestorben waren. »Man geht davon aus, dass mindestens 30 Millionen Afrikaner in den nächsten zwanzig Jahren an Aids sterben werden«, berichtete der Independent aus London. 75
     
    »Ende der Neunzigerjahre explodierte das Ganze«, erzählte mir Stephen Lewis im August 2005. Er ist der Sondergesandte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für HIV und Aids in Afrika, vormals UN-Botschafter für Kanada und stellvertretender geschäftsführender Direktor von UNICEF. Er ist reizbar und unnachgiebig und ungeduldig, die Hornbrille rutscht ihm ständig von der Nase, das drahtige, von grauen Strähnen durchzogene Haar sieht aus, als stünde es ihm vor Schreck zu Berge oder als wäre es vom Wind zerzaust. Er bewohnt mit seiner Frau, der feministischen Theoretikerin und Kolumnistin Michele Landsberg, ein mit Büchern vollgestelltes gemütliches Haus in Forest Hill, einem Viertel von Toronto, aber er macht nur selten Station hier. Sein Vater war David Lewis, der Führer der New Democratic Party von Kanada; sein Schwager ist der Architekt Daniel Libeskind; seine Töchter Ilana und Jenny und sein Sohn Avi sind alle in der linken Szene engagiert und arbeiten erfolgreich in Stiftungen, als Dokumentarfilmer und fürs Fernsehen; seine Schwiegertochter Naomi Klein hat No Logo verfasst, eine Bibel der Antiglobalisierungsbewegung; und dann gibt es noch zwei Enkel. Kurz gesagt: Er hätte Grund genug, daheim zu bleiben; man könnte es sich in diesem Haus für ewig gemütlich machen, mit einem Wälzer auf Englisch, Französisch, Suaheli oder Jiddisch, die in den Holzregalen stehen, auf einem der weichen Sofas Platz nehmen, Tee trinken und die Zeitungen durchforsten. Die Leute, die ihre schneeverkrusteten Stiefel auf der Fußmatte abstreifen und in Socken über

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