'Alle meine Kinder'
einer Lungenkrankheit gestorben, sagten die Trauernden; sie sei einer Grippe erlegen. Man redete von Tuberkulose oder Diarrhö oder einem Nervenleiden. Im Westen konnte man in den Nachrufen oft lesen: »Er verstarb nach langer, schwerer Krankheit.«
»HIV/Aids« wurde fast nie ausgesprochen, außer von denen, die HIV-positiv waren. Die nicht Infizierten - oder diejenigen, die hofften, nicht infiziert zu sein - hielt Aberglaube davon ab, es laut auszusprechen, als könnten schon allein die Buchstaben Zunge und Lippen anstecken. Nur Leute wie Zewedu, bei denen dieser Zauber versagt hatte, waren unverfroren genug, der Krankheit jeden Namen zu geben, der ihnen gefiel.
Zewedu war im Jahr 2000 einer von zwei Millionen unter seinen Landsleuten. Äthiopien hatte die dritthöchste HIV/Aids-Infektionsrate auf der Welt, übertroffen nur von Indien und Südafrika.
Anders gesagt, einer von elf Menschen auf der Welt, die mit HIV/Aids lebten, war Äthiopier. 77
Im Äthiopien des Jahres 2000 kam die Entscheidung einer gesunden, finanziell abgesicherten Witwe, ihr Haus Kindern zu öffnen, die durch Aids zu Waisen geworden waren, engen Freunden und ehemaligen Kollegen gefährlich und dumm vor.
»Haregewoin, ich verstehe nicht, warum du so versessen darauf bist, dich in dieser Weise zu erniedrigen«, sagte eine alte Freundin. »Ich versuche es ja, aber es gelingt mir nicht.«
»Ich mache mir Sorgen, dass du dich selbst aus der Gesellschaft ausschließt«, sagte ein alter Freund von Worku. »Du könntest von anderen gemieden werden. Sei bitte vorsichtig. Eine solche Entscheidung sollte nicht leichtfertig getroffen werden.«
»Ich habe sie schon getroffen«, sagte Haregewoin.
»Du könntest verjagt werden. Du könntest dein Haus verlieren«, jammerte Suzie bei einem Anruf aus Kairo. »Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Wie kann ein Kind ohne Mutter leben?«
»Ich fürchte, die Leute werden denken, du wärst positiv«, flüsterte die Tochter.
»Das ist mir doch egal!«, rief Haregewoin. »Sollen sie denken, was sie wollen.«
»Mutter! Was sagen denn deine Freunde dazu?«
»Sie sagen...« Haregewoin musste kurz überlegen, wie sie es ausdrücken sollte. »Sie sagen, ich hätte den Verstand verloren.«
»Es wäre bestimmt sinnvoller gewesen«, sagten die Freunde zueinander, »wenn Haregewoin sich ganz zurückgezogen hätte.«
17
Auf der einen Seite also Ansteckung, Entstellung, Angst, Heimlichkeiten, Stigma, Scham, Mord und Panik. Eine neue Weltklasse-Elite an Krankheitsexperten, eine neue Weltklasse-Unterschicht an Unberührbaren. Noch ein Grund dafür, dass es mit Afrika bergab geht. Ein menschlicher Erdrutsch.
Und auf der anderen Seite zwei kleine Mädchen.
Innerhalb von wenigen Tagen wurden Selamawit und Meskerem bei Haregewoin abgegeben. Die Erste - ein langgliedriges Mädchen mit rundem Gesicht - hatte der Hunger davon abgehalten, sich ins Leben zu stürzen und die Gesellschaft anderer zu suchen, um mit ihnen zu plaudern und sich auszutauschen. Das erste Jahr bei Haregewoin war Selamawits größte Sorge, ob bald Essenszeit war und was auf dem Speiseplan stand. Mit vollem Bauch war sie ein fröhliches Mädchen, furchtlos und ehrlich, gesellig und lustig. Eine zweite Suzie!, dachte Haregewoin staunend.
Selamawit war lange herumgeschoben worden, aber sie hielt an den Erinnerungen an ihre Mutter fest.
»Es war so schön mit ihr, besonders an den Feiertagen«, erzählte Selamawit Haregewoin. »Wir haben gelacht und getanzt und Popcorn gegessen. Als dann meine Mutter krank wurde, habe ich mich um sie gekümmert, ich habe sie gefüttert und Kaffee für sie gekocht, während die Nachbarn und Verwandten ihr nicht mehr nahe kommen wollten.«
Durch den Tod ihrer Mutter waren ihre Zukunftsaussichten schon früh ziemlich trostlos, aber Selamawit hatte sich nicht unterkriegen lassen und jede Hilfe angenommen, die man ihr bot. Aus all den kleinen Aufmerksamkeiten, die ihr zuteil wurden, bastelte sie sich etwas zusammen, das wie ein behütetes Leben aussah. Wenn ihr jemand die Haare zu kleinen, in alle Richtungen abstehende Zöpfchen flocht, dann trug sie die; wenn nicht, dann bürstete sie sich die Haare straff nach hinten. Sie nahm an dem Schicksal anderer Menschen aufrichtig Anteil, und da sie davon ausging, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte, ging sie ohne Scheu auf sie zu. Nachts suchte ihre verstorbene Mutter sie in ihren Träumen auf und versicherte ihr, dass sie keine Schmerzen mehr litte.
Als Haregewoin ein paar
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