'Alle meine Kinder'
Lewis, »und meine Wut über das, was passierte, und vor allem, was nicht passierte, wuchs. Die Krankenstationen stanken nach Fäkalien und Urin und verdorbenem Essen und Tod. Die Leute lagen auf dem blanken Betonboden, auf den Betten und unter den Betten und starben. Ich besuchte eine fünfte Klasse in Harare in Simbabwe und acht von zehn Kindern schrieben Aufsätze über den Tod ihrer Eltern. Mir wurde auf einmal klar, dass ihr Leben von Beerdigungen bestimmt wurde, dass alle um sie herum starben.«
In seiner Rede zum Welt-Aids-Tag des Jahres 2005 sagte Lewis: »Ich bin fest davon überzeugt, dass wir diese Epidemie unter Kontrolle bringen könnten, wenn es uns nur gelänge, die Welt zu mobilisieren. Wir brauchen eine übermenschliche Anstrengung aus jeder Ecke der internationalen Gemeinschaft. Doch wir bekommen sie nicht. Beim gegenwärtigen Tempo werden wir bis zum Jahr 2012 eine Gesamtzahl von 100 Millionen Todesfällen und Infektionen zu verzeichnen haben. [Und] wir nennen uns eine hoch entwickelte Zivilisation.«
Die Nachricht, dass es lediglich fünf Übertragungswege gab, erreichte die Menschen in Äthiopien nur langsam (die Mehrheit - Analphabeten, viele fernab jeder Stromversorgung - konnte nicht über Fernsehen, Radio, Plakate oder Broschüren informiert werden): durch ungeschützten Geschlechtsverkehr mit einer infizierten Person; durch die gemeinsame Benutzung von Injektionsnadeln oder Tätowierbesteck mit einer infizierten Person; durch das Eindringen infizierter Körperflüssigkeiten über eine Wunde in den Körper; durch eine Transfusion mit infiziertem Blut oder bei der Geburt oder durch die Muttermilch einer infizierten Frau. Und die meisten Leute verschwiegen, dass sie HIV-positiv waren, bis sie das Aids-Vollbild entwickelt hatten und ihr Tod nahe bevorstand, so dass die Spanne zwischen Eingeständnis der Krankheit und Tod kurz war. Als Aids schließlich ins allgemeine Bewusstsein drang, geschah das auf einen Schlag, da es sich über so viele Jahre unerkannt verbreitet hatte - daher konnte man meinen, es würde ganz leicht übertragen, beim Husten, Küssen und Niesen, durch gebrauchte Taschentücher, gemeinsames Essen von einem Teller, Klobrillen, Schwimmbäder, Flüsse, Wind und Stechmücken.
Das Fehlen konkreter Informationen trug zur Entstehung moderner Legenden bei. Die Leute erzählten sich, wenn ein HIV-positiver Mann ein gebrauchtes Kondom auf die Erde warf, Gras darauf wuchs und eine Kuh dieses Gras fraß, dann könnte man an der Milch dieser Kuh sterben. Die Leute erzählten sich, wenn man Fleisch von einem HIV-positiven Metzger kaufte, könnte das Virus über das rohe Fleisch auf den eigenen Teller gelangen. Ladenbesitzer, Friseure und Schneider, von denen man glaubte, sie könnten HIV-infiziert sein, wurden von den Kunden gemieden. Am weitesten verbreitet war die Ansicht, dass der liebe Gott Sünder mit Aids strafte und dass Aids oder HIV bei Kindern die Folge der Sünden der Eltern waren. Es gab Pfarrer, die predigten, dass nur Fasten und Weihwasser das sichere Todesurteil abwenden könnten.
Aids-Witwen, -Witwer und -Waisen wurden aus ihren Familien und Gemeinden ausgeschlossen, aus Furcht, sie könnten ansteckend sein, und weil der Schatten einer göttlichen Strafe auf ihnen lag. Traditionell sorgte in Äthiopien die Gemeinschaft aufopferungsvoll für Witwen und Waisen, und daher waren die Ablehnung und die Lähmung, auf die Aids-Überlebende stießen, etwas völlig Fremdes und Furchtbares.
Auf der ganzen Welt wurden Aids-Kranke angegriffen, und es gab »Ehrenmorde«. 1987 zerstörten Brandstifter das Haus einer Familie in Florida, deren drei Söhne an der Bluterkrankheit litten und durch Bluttransfusionen mit HIV infiziert worden waren. Am Welt-Aids-Tag 1998 trat die 36 Jahre alte Aids-Aktivistin Gugu Dlamini, Mutter eines Sohnes, im Zulu-sprachigen Radio und Fernsehen auf und bekannte, dass sie HIV-positiv war. Sie ermutigte andere Infizierte, sich aus der Deckung zu begeben, und forderte die Bevölkerung dazu auf, die Kranken nicht mehr zu verfolgen. Noch am selben Abend wurde sie von Leuten aus der Nachbarschaft zu Tode geprügelt und getreten.
Scham und Stigmatisierung waren enorm: Die Leute sprachen mit gesenkter Stimme über die Krankheit und gaben ihr Decknamen wie gizeyaw zamamu beshita (die Krankheit der Zeit), kesafi beshita (die Krankheit, die tötet) oder einfach aminmina (mager). Wenn jemand starb, wurde die eigentliche Todesursache verschwiegen. Er sei an
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