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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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das Parkett wandern, sind stets die Besten, die Interessantesten, es sind Top-Leute, die sich um die Menschheit und die richtige Regierungsführung Gedanken machen; sie debattieren während des Abendessens über Krieg und Öl und gehen danach mit einem unverständlichen Bericht über Handel und Schuldenerlass in einem der Gästezimmer zu Bett. An den Wänden hängt afrikanische Kunst, in den Regalen stehen afrikanische Skulpturen.
    Selbst wenn Lewis nie sein Heim verließe, würde von dieser Adresse ständig ein ganz bestimmter Glanz ausgehen, Intelligenz, moralische Klarheit. Wunderbare Zeitschriftenartikel würden hier entstehen; seine scharfe Stimme - wütend auf die Welt und gleichzeitig mit einem leicht sich selbst tadelnden Unterton - würde von öffentlichen Radiosendern verbreitet werden.
    Aber Lewis bleibt nicht zu Hause, und er ist nie zu Hause geblieben. Seit seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr hat er sich immer wieder längere Zeit in Afrika aufgehalten.
    »Unmittelbar vor und nach Erlangen der Unabhängigkeit traf man dort auf eine überwältigende Großzügigkeit und Menschlichkeit«, erzählte er mir. »Ghana, Nigeria, Guinea-Bissau und Kenia... lebendige und musikalische Welten, eine Zeit voller Hoffnung. Wie anständig und großzügig die Menschen waren. Das ist auch heute noch so, nur wird es allzu oft von Hunger, Armut, Krankheit und Verzweiflung überlagert.«
    Lewis tourt ununterbrochen um die Welt. Die Krawatte gelockert, mit hochgekrempelten Hemdsärmeln und zerknitterten Baumwollhosen, blinzelt er in die erbarmungslose Sonne der baumlosen Ebenen, niest in den Sturmwinden der Regenzeit, kauert sich in Propellermaschinen, die in niedriger Höhe über die Matobo-Berge von Simbabwe knattern, und spricht vor vollen Häusern in Südafrika und Swaziland, in Botswana und Angola, in Sierra Leone und Ruanda. Zu den planmäßigen Stopps auf Lewis’ Welttournee gehören Sterbezimmer, Hospize, Waisenhäuser und Friedhöfe. Die Menschen, zu denen er kommt, liegen sterbend zu zweit oder dritt auf einem schmalen Feldbett. Die Kinder, die sich in staubigen Höfen aufstellen und für ihn singen, schluchzen manchmal zwischen zwei Atemzügen. (Er ist zu spät gekommen; ihre Eltern sind schon tot.) Der UN-Sondergesandte verliert jene, in deren Auftrag er arbeitet, schneller als jeder andere Amtsvertreter auf der Welt.
    »Alle waren sich vage bewusst, dass man sich irgendwann mit diesem Problem würde auseinandersetzen müssen«, sagte er, »aber keiner war sich über das Ausmaß klar, keiner rechnete mit solch riesigen Leichenbergen, weil die Inkubationszeit so lang ist. Erst als ich 1999 von UNICEF wegging, war mir klar geworden, dass diese Sache namens Aids alle unsere Pläne für Afrika durchkreuzte, alle Vorhaben im Rahmen des UNICEF-Mandats wurden von dem Virus zunichtegemacht. Ich hätte stärker darauf achten sollen. Vermutlich spiegelte sich in mir die Pflichtvergessenheit des größten Teils der westlichen Welt wider. Wir kümmerten uns um das Überleben der Kinder, um Kindersoldaten, Kinderarbeit; wir hatten mit Landminen zu tun, mit der sexuellen Ausbeutung von Kindern; ich machte mir Sorgen um das Arsen in den Brunnen in Bangladesch und die Müttersterblichkeit in Indien und die Schulbildung von Mädchen in Vietnam und über Guerilla-Truppen aus Minderjährigen in Bogotá; aber Aids war... nun ja, Aids breitete sich die ganze Zeit über im Verborgenen aus.
    Man muss sich das mal vorstellen, abgesehen von Uganda - wo Museveni begriff, dass er mit dem Verlust seiner Armee auch das Fundament seiner Macht verlieren würde -, rührte deswegen bis ungefähr 2000 kaum einer einen Finger. Ich wünschte, ich wäre vorausschauender und hartnäckiger gewesen.«
    1984 wurden in Äthiopien die ersten Patienten mit Aids diagnostiziert; der erste Aids-Vollbild-Fall wurde 1986 registriert. 76 (»Aids-Vollbild« heißt, dass ein Patient nicht nur positiv auf HIV gestestet wurde, sondern die Zahl der CD4-Zellen - auch T4-Zellen oder Helferzellen genannt - bei einem gesunden Erwachsenen von 500 bis 1500 Zellen pro Kubikmillimeter Blut auf unter 200 gesunken sind oder er von einem oder mehr der etwa zwei Dutzend opportunistischen Aids-Infektionen befallen ist, die sich von Region zu Region unterscheiden - PCP, KS, Toxoplasmose des Gehirns, Lungentuberkulose etc.)
    »1999 und 2000 wurde ich die ersten Male auf den Stationen für Erwachsene in äthiopischen Krankenhäusern mit dem ganzen Schrecken konfrontiert«, sagte

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