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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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Tage nach Selamawits Eintreffen Meskerem das erste Mal sah, saß die Sechsjährige allein und verloren auf dem rissigen Ledersitz des Wagens von MMM. Ihre dichten schwarzen Augenbrauen waren wie mit Kohle in das schmale, unverkennbar äthiopische Gesicht gemalt; die riesigen runden Augen unter der hohen Stirn blickten sie klug und melancholisch an. Das Mädchen war in schmutzige, sackartige Kleider gehüllt, an denen es mit langen, schmalen Fingern herumzupfte. »Komm her«, sagte Haregewoin, breitete ihre Arme aus, und Meskerem kletterte aus dem Transporter und ließ sich umarmen. Wie dünn sie war! Über ihren Kopf hinweg zog Haregewoin fragend die Augenbrauen hoch.
    »Sie lebte allein mit ihrer Mutter, als diese starb«, sagte die Frau von MMM. »Sie zog zu ihrem Vater, aber dort war sie sehr unglücklich. Ihr älterer Halbbruder brachte sie zu uns.«
    Es war früher Abend. Mit den anmutigen, vorsichtigen Bewegungen eines Rehkitzes betrat Meskerem das Haus und sah sich um, aber dann gewann die Traurigkeit die Oberhand über ihre Neugierde; ihre braunen Lippen zitterten, und die Mundwinkel senkten sich; sie schlug sich die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen. Genet, die gerade eine alte Zeitschrift durchblätterte, sah genervt auf, so als fragte sie sich, ob sie sich nun tatsächlich den ganzen Abend dieses Geheule anhören müsste.
    Aus einem Impuls heraus schlang Selamawit zur Begrüßung die Arme um Meskerem; aber das schmale, von Trauer erfüllte Mädchen befreite sich aus der Umarmung und wich zurück. Meskerem war erst kürzlich zur Waise geworden und hatte noch die winzige Hoffnung, dass ihre Mutter Yeshi sich erholen und sie suchen könnte. Alles und jeder - Haregewoin, Selamawit, Genet, das Haus, das Auto, der Hof - schienen ihr entgegenzuschreien, dass sie nicht Yeshi waren und nie zu Yeshi gehört hatten. Sie existierten nicht für sie.
    Haregewoin brachte Meskerem in ihr Schlafzimmer, zog ihr ein Flanellnachthemd an, steckte sie in ihr Bett und brachte ihr eine Tasse heißen Tee. Genet seufzte jedes Mal ungeduldig auf, wenn Haregewoin an ihr vorbeieilte, um Meskerem erneut etwas Gutes zu tun. Selamawit sprang ständig zwischen den beiden Zimmern hin und her, sie freute sich, eine neue Freundin zu haben. »Was ist mit ihrer Mutter passiert?«, fragte sie laut.
    »Was ist mit ihrem Vater passiert?«
    »Bleibt sie für immer hier?«
    »Warum weint sie denn?«
    »Genet!«, rief Haregewoin verzweifelt, und das mürrische ältere Mädchen zog Selamawit von der Schlafzimmertür weg.
    Schließlich kam Abel nach Hause, und die beiden jungen Leute machten sich rauchend und unter viel Gelächter in der Küche etwas zu essen. Jetzt ging Selamawit ihnen auf die Nerven: »Seid ihr ein Liebespaar?...Werdet ihr heiraten?... Wer von euch ist älter, du oder er?«
    In der Nacht wachte Meskerem auf und suchte ihre Mutter. Noch bevor sie ganz wach war, begann sie zu weinen, ein hoher, nasaler Laut wie eine ferne Sirene. Davon wiederum erwachte Haregewoin und fing aus Mitleid mit dem Mädchen ebenfalls an zu weinen. Sie tastete im Dunkeln nach dem Kind und streichelte ihm über den Kopf. Meskerems glänzende Haare waren wirr wie Seetang. Haregewoin setzte sich auf und nahm das dünne Kind in die Arme; sie wiegte es hin und her und sang ihm leise etwas vor. Der Atem des Kindes roch nach den Weintrauben, die es zu Abend gegessen hatte, und dem gesüßten Tee, den es getrunken hatte. Als Meskerem wieder eingeschlafen war, legte Haregewoin sie auf ein Kissen, konnte nun aber selbst nicht mehr schlafen. Vorsichtig, um Meskerem und Selamawit nicht zu wecken und auch Genet auf der Matte auf dem Boden nicht zu stören, schlüpfte sie aus dem Bett.
    Sie nahm ihr Baumwolltuch von dem Stuhl und wickelte sich darin ein, dann ging sie vor die Tür. Sie atmete tief die Gebirgsluft ein und schloss die Augen. »Danke«, sagte sie zum Universum. Hatte Gott, hatte Atetegeb ihr nicht diese Kinder geschickt? Eine weitere Suzie, eine weitere Atetegeb? Ein Ebenbild der Tochter, die sie hatte, ein Ebenbild der Tochter, die sie verloren hatte.
    Meskerem hatte sofort ihr Herz erobert, ihr Allerheiligstes. Meskerem sah für sie genau wie Atetegeb aus.
     
    Auf einmal waren Besorgungen zu erledigen, Stifte und Schulhefte mussten gekauft werden, und Strümpfe und Schuhe und Zahnbürsten. Meskerem und Selamawit begleiteten Haregewoin im Auto.
    »Nennt mich amaye «, forderte Haregewoin die beiden kleinen Mädchen auf.
    Selamawit folgte der

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