'Alle meine Kinder'
Hand Ordnung in Genets und Abels Leben zu bringen. Aber ihr zweites Leben als Mutter begann erst mit Selamawit und Meskerem.
Wie durch ein Wunder war sie wieder zu einer gutsituierten Frau mit Kindern geworden.
Teil 2
19
Der Leiter von MMM verlor Haregewoins Telefonnummer nicht. Anfang 2000, ein paar Wochen nachdem er Selamawit und Meskerem bei Haregewoin untergebracht hatte, rief er sie erneut an. » Waizero Haregewoin!«, rief er munter, als sie den Hörer abnahm.
»Nein!« Sie lachte. »Was könnten Sie wohl von mir wollen?«
»Mrs. Haregewoin, ich habe hier noch mehr Kinder und -«
»Nein!«, rief sie und lachte wieder. »Was glauben Sie? Ich habe vier Kinder, das ist wunderbar, wirklich, das ist ganz wunderbar. Habe ich vielleicht versäumt, mich bei Ihnen zu bedanken? Mir geht es wieder gut. Meskerem und Selamawit sind reizende Mädchen. Sie sind wahre Gottesgeschenke. Sie hatten recht, Sie hatten mit allem völlig recht. Es war dumm von mir, mich von der Welt zurückziehen zu wollen, wenn es Kinder gibt, die mich brauchen...« Und so plauderte sie immer weiter.
»Aber nein, Mrs. Haregewoin!«, beeilte er sich zu sagen. »Wir sind es, die Ihnen zu danken haben.«
»Aber nein, keine Ursache, und danke für Ihren Anruf.«
»Nein, warten Sie...«
Das war der Anfang vom Ende von Haregewoins Selbstbezogenheit. Sie hatte geglaubt, dass man ihr Abel, Genet, Selamawit und Meskerem als Trost geschickt hatte. Wenn sie sich um andere Leidende kümmerte, würde ihr eigenes Leid gelindert werden. Der Priester hatte ihr in seiner Weisheit nicht erlaubt, sich in ein Leben des Gebets und der Trauer zurückzuziehen, und hatte sie dazu ermuntert, ein paar verlorenen Kindern zu helfen. Das hatte sie getan. Eine Parabel über das Heilen. Es war ein Handel, der so alt wie die Menschheit selbst war, und doch schien jede gequälte Seele den Weg dahin aufs Neue finden zu müssen. Sie war am Ende gewesen, und jetzt würde sie diese Erfahrung darauf verwenden, andere zu heilen und Selamawit und Meskerem ins Leben zurückzuführen. »Mrs. Haregewoin, wir haben jetzt auch Meskerems Bruder hier. Halbbruder, besser gesagt. Er stammt aus der ersten Ehe ihrer Mutter.«
»Wie bitte?«
»Er ist sieben, vielleicht acht.«
»Der Arme.«
»Und -«
»Ja?«
»Zwillinge, sie sind ungefähr vier. Helen und Rahel. Ihre Mutter ist vor kurzem gestorben. Sie war arm, sehr, sehr arm.«
Haregewoin schwieg verwirrt.
»Und - sind Sie noch dran, Mrs. Haregewoin?«
»Ja, ich bin noch dran.«
»Und ein fünfjähriges Mädchen namens Bethlehem. Die Mutter ist auch tot.«
Haregewoin lehnte sich gegen den Türrahmen und blickte in den Hof, wo Meskerem und Selamawit im Schatten des Eukalyptusbaums Mutter, Vater, Kind spielten. Sie hatten Kronkorken aus der Erde gebuddelt, sie gewaschen und legten sie gerade für eine Kaffeezeremonie zurecht.
»Und Sie wollen, dass ich eine Wahl treffe?«, flüsterte Haregewoin und wusste bereits, dass sie ein Kind nehmen würde, stellte im Kopf bereits die Betten um. »Wie soll man unter Waisen eine Wahl treffen? Vielleicht sollte ich den Bruder nehmen?«
»Nein, Waizero Haregewoin.« Sie hörte sein tiefes Lachen. »Wir hoffen, dass Sie alle nehmen.«
»Ich verstehe nicht, was da los ist.«
»Die Lage ist momentan sehr schlimm, Mrs. Haregewoin. Bitte, dürfen wir die Kinder bringen?«
»Ja. Natürlich.«
Zwei Tage später fuhr der Wagen von MMM in den Hof, und vier verloren wirkende, verwirrte, schniefende Kinder blickten traurig aus den Fenstern. Meskerems Bruder Yonas hatte traurige, rot geweinte Augen und sah mit seinem dreieckigen Gesicht fast armenisch aus; wie sich zeigen sollte, war er ein sanftmütiger, intelligenter Junge. Die Zwillingsmädchen, die sich überhaupt nicht ähnlich sahen, hielten ständig einen Zipfel der schäbigen Kleidung der anderen in der Hand. Bethlehem bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, weil sie sich sonst nirgends verstecken konnte.
Meskerem gab Yonas zur Begrüßung die Hand und küsste ihn höflich auf die Wangen. Die beiden standen sich nicht sehr nahe - sie hatte bei ihrer Mutter gelebt, er bei seinem Vater. »Kommt, Kinder«, rief Haregewoin und führte die schweigenden Kinder wie eine Glucke hinter sich her in die Küche, wo sie sich beeilte, ihnen etwas zu essen vorzusetzen. Sie nahm zwischen den Zwillingen Platz und fütterte erst das eine Mädchen und dann das andere. Sie lachte viel, sang einzelne Strophen von Kinderliedern, sah ihnen in die Augen, damit sie
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