'Alle meine Kinder'
ihre Angst verloren, damit sie Zutrauen zu ihr fassten.
Haregewoin hörte, dass Genet das Haus betrat. »Genet, schau mal!«, rief sie voller Freude, aber Genet teilte diese Freude nicht.
»Wo sollen die denn alle schlafen?«
»Der Kleine wird in Abels Zimmer auf dem Boden schlafen«, sagte Haregewoin und wies nickend zu Yonas.
Genet spitzte die Lippen und verschränkte die Arme, wartete auf das, was noch kam. »Die Zwillinge und das Mädchen hier schlafen zusammen mit Selamawit und Meskerem in meinem Bett und wir beide auf Matten auf dem Boden.«
»Nein danke«, sagte Genet.
»Genet, mein Mädchen, was soll ich denn tun?«
Genet zuckte die Schultern und drehte sich weg. »Ich bleib sowieso nicht mehr lange hier«, murmelte sie.
Sie wurde immer ungezogener und störrischer. Wenn sie von der Schule nach Hause kam, vorausgesetzt, sie war überhaupt in der Schule gewesen, roch sie nach Zigarettenrauch. Manchmal trug sie nachmittags eine andere Bluse als die, mit der sie morgens das Haus verlassen hatte. Und dann kam sie erst nach Einbruch der Dunkelheit heim. Sie begann das Leben auf der Straße wieder aufzunehmen.
Auch Abel zeigte sich nicht gerade von seiner besten Seite. Er kam und ging, wie es ihm gefiel, und war ständig benebelt. Eben noch verhielt er sich gleichgültig gegenüber den Kindern - was sie anfangs mit Freundlichkeit verwechselten -, dann wieder versetzte er ihnen Kopfnüsse und Tritte, wenn die Wirkung der Drogen nachließ. »Pass auf«, warnte ihn Haregewoin mehr als ein Mal. »Benimm dich den Kleinen gegenüber anständig.«
Daher war sie vielleicht von allen am meisten enttäuscht, als sie Abel eines Abends in der Einfahrt erwischte, wie er vorsichtig Benzin aus dem Tank ihres Autos absaugte und die Dämpfe aus einem Eimer inhalierte, während Yonas und einige der kleinen Mädchen das Ganze aus der Nähe beobachteten. Als wäre er Zeuge eines naturwissenschaftlichen Experiments, fragte Yonas ihn aus. »Wie kann das Auto ohne Benzin fahren?«, hörte sie sein hohes Stimmchen.
Haregewoin sah sich gezwungen, am nächsten Morgen ihre Freunde bei MMM anzurufen. »Sie müssen Abel wieder holen, ich kann nichts für ihn tun.«
»Ja, Waizero Haregewoin, ich verstehe«, sagte der Leiter. »Ich wollte Sie ohnehin heute anrufen.«
Aus dem Transporter, der nachmittags kam, um Abel mitzunehmen, stieg ein kleines Mädchens namens Rahel Jidda, das gerade erst Waise geworden war und jedes Mal aufsah, wenn jemand den Raum betrat, voller Hoffnung, dass es seine Mutter sein könnte.
Abel stakste wie ein großer Vogel langsam zur Haustür hinaus, er trug kein Gepäck bei sich und sah sich nicht ein Mal um. » Ciao , Abel!«, rief Genet, als Abel sich duckte, um in den Transporter zu klettern. »Bis bald!«, fügte sie hinzu, um Haregewoin zu ärgern. Dann schmollte sie für den Rest des Tages. »Alte Hexe«, murmelte sie. Sie raffte ihr Kissen und ihre Decke vom Boden in Haregewoins Zimmer und brachte sie zurück in das andere Schlafzimmer, um es wieder für sich zu reklamieren.
Haregewoin aber lief zu dem Transporter, der gerade zurückstieß, schob die Tür auf und beugte sich vor, um Abel zum Abschied auf beide Wangen zu küssen. Der junge Mann mochte sie enttäuscht haben und sie selbst schien an ihm gescheitert zu sein, dennoch versetzte es ihr einen Stich, dass er ging.
Und dann war da Genet. Nach Abels Weggang versuchte Haregewoin, nachgiebiger gegenüber Genet zu sein, um nicht auch an ihr zu scheitern. Aber sie hatte Sorge, dass das Mädchen die kleineren Kinder quälen könnte. Sie hörte, wie Genet sie ausschimpfte, und fragte sich, ob dies von Handgreiflichkeiten begleitet wurde. Die Kinder, die akzeptiert hatten, dass sie niemandem irgendetwas bedeuteten, nahmen es schweigend als etwas hin, das sie verdienten. Sie ließen den Kopf hängen und weinten still. Wenn Genet nachmittags nach Hause kam, unterbrachen die Kinder sogleich jedes Spiel im Hof und suchten die Nähe von Haregewoin.
»Nein«, schrie Haregewoin, als sie das erste Mal sah, wie Genet Rahel Jidda fest in den Oberarm zwickte. »Genet, das muss aufhören. Das darfst du nicht.«
»Dann sag ihr, dass sie meine Sachen in Ruhe lassen soll.«
Einer amerikanischen Krankenschwester, die von der Kirche zu einem längeren Missionsaufenthalt nach Äthiopien geschickt worden war und Haregewoin durch MMM kennengelernt hatte, war es zu einer lieben Gewohnheit geworden, dass sie ein Mal in der Woche bei ihr vorbeischaute. Sie war
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