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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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Buchhaltungsaufträge an, die sie spätabends oder frühmorgens beim Licht der Lampe und einer Tasse Tee am Küchentisch erledigen konnte, während die sieben Kinder schliefen.
    Aber Haregewoin war es nicht vergönnt, es in aller Ruhe zu genießen, wieder ein paar Kinder großzuziehen. Die grauenvollste Epidemie der Menschheitsgeschichte klopfte an das verbeulte Metalltor zu ihrem Hof, höflich zunächst, wenn auch beharrlich, und dann trommelte sie mit den Fäusten dagegen.

20
    Man beobachtete sie.
    Rasch verbreitete sich im ganzen Viertel die Nachricht, dass diese Frau Aids-Waisen bei sich aufnahm. (2001 gab es 989 000 Aids-Waisen in Äthiopien, nach Nigeria die meisten weltweit.)
     
    Eines Morgens hörte Haregewoin über das Geschnatter der Kinder, die sich für die Schule fertig machten, hinweg jemanden an das Hoftor klopfen. Ungekämmt und in Plastikschuhen und Hauskleid rief sie » Abet? Ja?« durch das Tor.
    »Polizei«, sagte eine Männerstimme, und Haregewoin zog die schwere Tür auf.
    Zwei Polizeibeamte in Uniform standen davor. In den Armen des Kleineren lag ein zappelndes Bündel. Er hielt es Haregewoin hin. Sie beugte sich vor, zog die Decke weg und sah einen Säugling mit wutverzerrtem Gesicht, weil man es gewagt hatte, ihm eine Decke über den Kopf zu legen.
    »Wer ist denn das?«, rief Haregewoin überrascht.
    »Wir haben die Kleine gefunden«, sagte der größere der beiden Polizisten. »Jemand hat sie auf der Straße liegen lassen, unter einem Busch.«
    Haregewoin schlug sich die Hand vor den Mund.
    »Nehmen Sie sie?«, fragte der kleinere Polizist, der Schwierigkeiten hatte, das Kind zu halten, oder vielleicht auch nur so tat, damit Haregewoin es ihm abnahm.
    »Ich? Warum bringen Sie sie zu mir? Das arme Ding! Sie müssen sie zum kebele bringen!«
    »Dort waren wir schon, und man hat uns gesagt, dass wir sie zu Ihnen bringen sollen«, sagte der Polizist und hielt das Baby noch ein bisschen weiter von sich weg.
    »Und was ist mit den Mutter-Teresa-Schwestern?«, fragte Haregewoin. »Die haben doch ein Waisenhaus.«
    »Sie sind voll, können niemanden mehr aufnehmen.«
    Sie hatte gedacht, dass dort Platz für Hunderte von Kindern war; später würde ihr bewusst werden, was es bedeutete, wenn das Mutter-Teresa-Waisenhaus voll war.
    »Wenn Sie wenigstens ein paar Tage für sie sorgen könnten, ergibt sich vielleicht eine andere Möglichkeit, wo man sie unterbringen könnte«, sagte der kleinere Polizist und tat wieder so, als könne er das Bündel kaum halten. Das Kind begann zu wimmern.
    »Aber es hat mich keiner angerufen und gefragt«, sagte Haregewoin zögernd, sie dachte fieberhaft nach. »Ich bin auf ein Baby nicht eingerichtet.«
    »Sie sind doch die Frau, die Aids-Waisen aufnimmt, oder nicht?«, fragte der Größere. Er zog einen Zettel aus seiner Brusttasche. »Entschuldigung. Sind Sie Waizero Haregewoin Teferra?«
    »Die bin ich«, sagte sie. »Gut, wenn das kebele will, dass ich sie nehme, dann geben Sie mir die Kleine. Aber es hätte mich jemand anrufen sollen. Ich habe nicht einmal ein Fläschchen da.«
    Die Polizisten nickten dankbar, der Kleinere drückte ihr das strampelnde Kind in die Arme. Sie drehten sich um und gingen zu ihrem Auto, während das Baby versuchte, sich von der Decke zu befreien.
    »Einen Moment noch! Wie heißt sie?«, sagte Haregewoin.
    Die Polizisten sahen sich an, dann rief der Größere: »Geben Sie ihr einen Namen!« Sie schloss das Tor.
    »Kinder, kommt her!«, rief sie. »Ihr habt eine kleine Schwester!«
    Das Baby freute sich, wieder Tageslicht zu sehen; es hörte auf zu strampeln, und sein zornrot angelaufenes Gesicht nahm wieder seine normale Farbe an. Als die Kinder um die Kleine herumsprangen, streckte sie ihre Zungenspitze heraus und gluckste.
    Haregewoin nannte das unter einem Busch zurückgelassene Kind Menah, nach mena , was so viel wie nutzlos, ungewollt hieß, ein Mensch ohne Wert. So hatte sie sich selbst noch vor einigen Monaten bezeichnet, als sie sich zum Friedhof und zurück nach Hause geschleppt hatte.
    Die nächsten ein, zwei Tage rief niemand an, um Haregewoin mitzuteilen, was sie mit Menah machen sollte, und auch nicht im nächsten Monat oder zu einem späteren Zeitpunkt. Es erkundigte sich nicht einmal jemand nach dem Baby.
    Jetzt , dachte Haregewoin, habe ich wirklich genug. Das Leben ist schön. Sie beugte sich vor, schob sich das Kind auf den Rücken und schlang ein langes Tuch um sie beide. Als sie sich aufrichtete, blickte Menah mit

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