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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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seine Tochter aufnehmen.
    Haregewoin ließ sich das schlafende Mädchen in den Arm legen. Er verbeugte sich tief vor ihr und blieb so stehen, die Hände gefaltet. Als sie das Tor mit dem Fuß zustieß, rief der Vater: »Ich komme am Sonntag zu Besuch!« und dann noch einmal, als das Tor schon ins Schloss gefallen war: »Es ist nur für eine kurze Zeit!«
    Haregewoin trug Betti ins Bett, aber die vier kleinen Mädchen, die dort bereits schliefen, hatten sich breitgemacht und lagen auf der warmen Stelle, wo sie geschlafen hatte. Sie schob die Kinder mit dem Knie und der Hüfte sanft beiseite und quetschte sich mit der schlafenden Betti an den Rand der Matratze. Sie ließ sich zurücksinken und schlief mit dem neuen Mädchen in den Armen ein.
    Als sich Betti am nächsten Morgen in Haregewoins Bett aufsetzte und sich inmitten mehrerer kleiner Mädchen wiederfand statt zu Hause in ihrer Hütte, neben sich den auf dem Boden schlafenden Vater, fing ihre Unterlippe zu beben an. Einige Kinder drängten sich um sie, wollten sie wie ein Baby auf den Armen herumtragen, und Betti protestierte nicht dagegen und wurde in den Hof geschleppt, in dem schon die anderen Kinder spielten.
    Wie immer herrschte dort reges Treiben. Die Molltöne der Trauer gingen in dem Trommelwirbel der Kindheit unter: Himmel und Hölle, Schere-Stein-Papier, das Uff! eines schlaffen Fußballs, der in die Luft getreten wurde, nasse Wäsche, die bunt durcheinander auf der Wäscheleine hing, Plastiksuppenlöffel, die über Plastikschüsseln schabten, und das Sirren und Aufschlagen eines Springseils. Ein Eukalyptusbaum in einer Ecke bewegte sich in dem heißen Wind, und seine kleinen, harten Blätter gaben ein helles, raschelndes Geräusch von sich.
     
    Am Nachmittag des folgenden Sonntags klopfte Theodros wie angekündigt an das Stahltor. Betti rannte zu ihm und klammerte sich mit beiden Händen an sein Hosenbein. Theodros bedeutete ihr, dass sie zu ihren neuen Freunden gehen und mit ihnen spielen sollte, aber sie wollte nicht: Sie hatte Angst, dass er verschwinden könnte, wenn sie sich umdrehte. So kam es, dass ihm auch an diesem Tag die väterliche Freude, seine Tochter inmitten anderer Kinder spielen zu sehen, versagt blieb. Sie lehnte an seinem Bein, während er ihr sanft über den Kopf streichelte, und zusammen beobachteten sie mit einem leicht erstaunten Lächeln, wie die gesunden Kinder im Hof Fußball spielten, wild hin und her rannten und sich dabei anbrüllten und schubsten.
    Theodros kam von nun an jeden Sonntag zu Besuch und nahm am Abend wieder Abschied. Betti weinte nicht, wenn ihr Vater zum Tor hinausging, aber sie nuckelte so fest an ihrem Daumen, dass man von ihrem Gesicht - das über die Schulter eines Kindes hinausragte, das sie zum Essen trug - nichts als die riesigen, verängstigten Augen über der Faust sah.
    Eines Sonntags blieb Theodros aus. Er schickte Haregewoin eine Nachricht, dass er im Krankenhaus sei.
    Einen Monat später kam er wieder, er bewegte sich langsam, und seine Beine knickten bei jedem Schritt ein wie die eines Grashüpfers; er trug dasselbe Wollsakko, nur ohne Krawatte, und er nickte und lächelte allen zu, als sei sein Zeitlupentempo eine besondere Form der Höflichkeit.
    Dieses Mal hüpfte Betti, die auch immer kränker wurde, nicht zu ihm. Sie schob erst den einen, dann den anderen Fuß vor, schlurfte über den unebenen Boden, bis sie seine Arme erreicht hatte.
    Zu Haregewoins Überraschung nahm Theodros Betti mit, und die beiden blieben einige Monate fort. Später erfuhr sie, dass er Betti eine Weile im Waisenhaus des Ordens von Mutter Teresa untergebracht hatte. Noch ein wenig später erfuhr sie, dass er gehofft hatte, seine Tochter würde dort Aids-Medikamente erhalten, aber es gab keine. Erst ab 2005 waren antiretrovirale Medikamente für Kinder in Äthiopien verfügbar.
    Aber davon konnte Theodros nichts wissen. Er wollte das Ende nicht sehen, das doch so klar vor ihm lag; er beharrte darauf, dass ihrer beider Schicksal eine Wendung zum Guten nehmen würde, wenn ihm nur ein neuer Schachzug, eine neue Strategie einfiele.
    Eines Sonntagnachmittags kam Theodros wieder zu Besuch. Die Haut spannte sich straff über seinen Wangenknochen, er nickte unablässig, als wolle er zeigen, dass sein Lächeln freundlich gemeint sei und keine Grimasse wegen der enormen Anstrengung. Behutsam ging er zu einem niedrigen, vorstehenden Rand des Betonbodens und setzte sich dort hin; Betti ließ sich bereitwillig von einem Freund

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