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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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herübertragen und lehnte sich gegen das Bein ihres Vaters.
    Beide sahen wie gewohnt den gesunden Kindern zu, die im Hof spielten. Theodros streichelte Betti über die Haare. Und sie, die aufgehört hatte zu wachsen, die kaum die Kraft hatte, wie vor langer Zeit ihre Arme in die fünfte Ballettposition zu bringen, falls sie sich überhaupt daran erinnern konnte, war zufrieden damit, sich an ihn zu lehnen, beide ruhig und friedlich in der Gegenwart des anderen, während sich die Dämmerung über sie senkte.

22
    Dass Haregewoin selbst noch immer trauerte, war vielleicht der Grund, warum sie zögerte, warum sie ihre Tür aufhielt, wenn Fremde in der Straße auftauchten und sie um Hilfe baten. Sie erkannte sogleich den Schmerz anderer Trauernder und hätte sie niemals schlecht behandelt.
    Manchmal schien es so, als warte auch sie auf jemanden.
    Die schmale Lücke in einer undurchdringlichen Mauer - Tür nach Tür schloss sich für die Gepeinigten, die Geistlichen wetterten in ihren Predigten gegen sie, ihre eigenen Familien verleugneten sie ungerührt - war entdeckt worden. Auf irgendeinem Weg hatten die Unberührbaren diese Frau gefunden, die keine Verwünschungen ausstieß, Steine warf oder ihnen mit einem Besen drohte, bevor sie ihnen die Tür vor der Nase zuschlug. Sie kamen mit dem Bus oder auf dem Esel, sie liefen oder humpelten zum Haus von Haregewoin Teferra in einem ärmlichen Viertel in den Hügeln von Addis Abeba.
    Erwachsene standen vor Haregewoins Tor auf der steinigen Straße, klopften höflich, dann warteten sie in dem ausgefransten Schatten eines Wacholders, ein verängstigtes Kind an der Hand.
    »Bitte, ich bin krank. Ich habe nichts zu essen für das Kind.«
    »Bitte, nehmen Sie sie, wir leben nicht mehr lange.«
    »Ich kann ihn nicht großziehen, ich habe kein Geld, und sein Vater ist tot.«
    »Ich habe die beiden vor meiner Tür gefunden - ich weiß nicht einmal, wer sie sind.«
    Nachbarn oder entfernte Verwandte schubsten einige der verwahrlosten Kinder in Haregewoins Richtung, um sie möglichst schnell loszuwerden; bei anderen weinten Großeltern, die zu arm und zu schwach waren, um sie bei sich zu behalten, und drückten sie an sich.
    »Bitte«, sagten die einen.
    »Nehmen Sie sie, ich will sie nicht!«, sagten die anderen.
    Haregewoin sah die kleinen, bedrückten Gesichter, die Köpfe hingen so tief auf die Brust, als hätten sie sich von den Hälsen gelöst. Wie Getreidesäcke gingen die Kinder von Hand zu Hand. Sie schlichen in den Hof und hielten dabei beschämt den Blick gesenkt.
    Eines Tages hupte ein Fahrer aus einem Dorf, das achtzig Kilometer entfernt lag, vor Haregewoins Tor. Sie öffnete es, und der verbeulte Transporter rumpelte über die Steine im Hof. Der Mann stieg aus und schüttelte Haregewoins Hand, schob die Seitentür auf und winkte eine Handvoll Kinder heraus, als wären sie auf einem Schulausflug zum Naturkundemuseum. Die Kinder waren schmutzig, und ihnen lief die Nase, ihre Köpfe juckten, Molluscum contagiosum, Dellwarzen, sprossen wie Pilze um ihre Lippen und Augen. Es waren Kleinkinder dabei, die noch nicht allein vom Trittbrett auf den Boden gelangten. »Warte, wer bist du denn?«, fragte der Fahrer einen kleinen Jungen.
    Der Junge erstarrte, dann sagte er überrascht: »Ich bin Natnael!«
    Außer ihm gab es niemanden mehr, der seinen Namen kannte.
    Manchmal gab ein frisch eingetroffenes Kind jämmerliche Laute des Verlassenseins von sich, heiser vom vielen Rufen nach seiner Mutter; es begann langsam den schrecklichen Verdacht zu hegen, dass seine Mutter nicht mehr kommen würde, und dennoch konnte es nicht aufhören » Amaye, Amaye « zu rufen. Haregewoin kauerte sich neben das Kind und flüsterte: » Ishi, ishi, ish, ish, ish, ish «, was so viel bedeutete wie: »Alles wird gut, sch, sch, ich weiß, ich weiß, alles wird gut.«
    Wenn Haregewoin auf ein Klopfen hin ihr Tor öffnete, stellte sie manchmal fest, dass derjenige, der geklopft hatte, schon geflohen war und ein kleines Kind zurückgelassen hatte, das, belagert von Fliegen, in vollen Windeln auf der Erde hockte.
    Haregewoins alte Freunde konnten sich immer noch nicht beruhigen. Sie zog es vor, fremde Kinder in Pflege zu nehmen, statt in einem Büro zu arbeiten, vielleicht sogar in Altersteilzeit?
    Aber zu dieser Zeit war die Seuche bereits überall, und es gab in der Stadt so viele Waisen wie Tauben. Waisenkinder trampten aus allen Richtungen in die Hauptstadt. Währenddessen kamen mit jedem Heulen einer

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