'Alle meine Kinder'
Krankenwagensirene, mit jedem Schrei einer Frau, die bei der Geburt starb, mit jedem Gang einer trauernden Familie auf den Friedhof neue Waisen hinzu. Die wenigen Waisenhäuser der Stadt waren ebenso überfüllt wie die Krankenhäuser und die Schulen. Waisenkinder wurden in Heime für Geisteskranke geschickt, in Armenhäuser, auf Friedhöfe, Müllhalden. Einige lungerten vor den Schulen herum, die sie nicht länger besuchen konnten; früher waren sie nach dem Unterricht aus den Toren geströmt und nach Hause gerannt; jetzt gab es kein Zuhause mehr und - da keiner für die Schulgebühren und -uniformen aufkam - auch keine Schule mehr. Ein vier Jahre altes Mädchen suchte auf der Straße vor dem Kücheneingang des Hotels, in dem seine verstorbene Mutter gearbeitet hatte, nach etwas Essbarem. Die Hotelangestellten ließen neben den Mülltonnen Lebensmittel für sie liegen.
»Ich nehme kleine Kinder bei mir auf, die auf die Straße gesetzt wurden«, erklärte Haregewoin ihren Freunden. Sie hatte keine Ahnung, dass Epidemiologen Statistiken bereinigten; sie hatte keine Ahnung, ob sich außer dem Leiter des MMM und ein paar anderen mitleidigen Seelen jemand der Krise bewusst war. Sie war sich kaum bewusst, dass das, was sie sah, rein formal, tatsächlich eine »Krise« war.
»Sie werden neben Kirchen, neben Polizeirevieren ausgesetzt«, erklärte sie ihren Freunden. »Ich kann nicht nein sagen.«
»Sie sind doch gesund, oder?«, fragten einige ihrer Freunde immer wieder.
»Ja, natürlich sind sie gesund«, rief Haregewoin, die diese Frage nicht mehr hören konnte. »Und selbst wenn sie krank wären, könnte man sich bei ihnen nicht anstecken!«
Aber mit dieser Einsicht war sie dem allgemeinen Kenntnisstand um Jahre voraus. Es war besser, auf die Horde Kinder in ihrem Hof zu deuten und ihren Freunden zu versichern: »Gesund, gesund, gesund!«, als sich mit biederen Mittelschichtfrauen mittleren Alters über die Feinheiten einer HIV/Aids-Übertragung auseinanderzusetzen.
Und so kamen ihre Freunde weiterhin zu Besuch zu ihr; sie saßen an verregneten Nachmittagen in ihrem Wohnzimmer; sie tranken Kaffee und ließen bescheidene Geldgeschenke da. Es kamen auch alte Freunde von Worku und Paare, mit denen Haregewoin und Worku früher Karten gespielt hatten. Sie waren mittlerweile über die Lebensmitte hinaus; sie hatten die meisten (nicht alle) ihrer Familienmitglieder in Zeiten des Aufstiegs und Falls von Herrschern und Diktatoren, brutaler Kriege und schrecklicher Hungersnöte sicher über die Runden gebracht; sie hatten sich jetzt ein bisschen Ruhe und Frieden verdient. Sie gaben sich mit allem Recht dem Traum hin, dass sich Meles als aufgeklärter Führer erweisen, dass Äthiopien wieder zu den fortschrittlichen Nationen gehören würde. Die Nachricht, dass eine unaussprechliche Krankheit die Gesundheit und Produktivität von Äthiopiens Bevölkerung zu untergraben drohte, war so grauenvoll, dass sie wenigstens noch eine Weile in dem seligen Zustand der Verdrängung verharren wollten. Durch ihre Besuche signalisierten sie widerstrebend, dass sie Haregewoins Tun akzeptierten, auch wenn manche deutlich zu erkennen gaben, dass sie sie für exzentrisch hielten, und sie wollten nicht gezwungen sein, eines der Kinder tatsächlich anzufassen.
Eines Nachmittags war ein schwaches Kratzen am Hoftor zu hören. »Ich glaube, da ist jemand, Emama , Großmutter«, rief ein Kind Haregewoin zu.
Haregewoin begrüßte eine gespenstisch aussehende, junge Frau in einem staubigen Rock. Ihr Gesicht mit den riesigen Augen war eingefallen, und sie machte einen verwirrten Eindruck. Mit einer unvermittelten Bewegung hielt sie ihr einen hübschen, lockenköpfigen Jungen entgegen, der in ihrem schmutzigen Tuch lag.
»Bitte nehmen Sie mein Kind, ich sterbe, er ist zwanzig Tage alt«, sagte sie atemlos.
Haregewoin nahm das Kind und wollte die junge Frau - die nicht älter als neunzehn oder zwanzig sein konnte - auf eine Tasse Tee ins Haus bitten. Vielleicht konnte man ihr helfen, das Kind zu behalten; wenn man ihr ein wenig unter die Arme griff, mit ein bisschen Geld, ein wenig Essen, würde sie vielleicht ihr Auskommen im Viertel finden. Aber in dem Moment drehte sie sich weg und fiel zu Boden. Ihre Brust war aufgebrochen, wie Haregewoin mit Entsetzen sah. Die junge Frau stürzte seitwärts auf die steinige Straße. Haregewoin rief nach Hilfe. Die beiden ältesten Jungen liefen herbei, hoben sie hoch (Sie wog nichts!) und trugen sie in den
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