'Alle meine Kinder'
Hof. Sie war tot.
Nachdem Haregewoin das kebele verständigt und darum gebeten hatte, den Leichnam zu holen, setzte sie sich abends mit dem Baby im Schoß hin. Es hatte strahlende Augen, glänzende Löckchen, kirschrote Lippen, aber keinen Namen. Die junge Mutter hatte dem Kind jedes Gran Leben, das in ihr war, gegeben, aber war zu schwach gewesen, seinen Namen auszusprechen.
Das Entsetzen wurde domestiziert, es wurde zu etwas so Alltäglichem, dass nur noch die schauerlichsten Umstände Kommentare hervorriefen. »Siehst du die Kleine dort?«, flüsterte Haregewoin eines Tages Zewedu zu und deutete auf ein etwa sechsjähriges Mädchen mit wildem Haarschopf, das am Tisch saß und auf das Mittagessen wartete. Sie hieß Nurit. Sie hatte den Kopf zum Tischgebet gesenkt.
»Sie war ein Einzelkind. Sie hat sich mit ihren Eltern ein Bett geteilt. Sie schlief zwischen den beiden. Eines Morgens wachte sie auf und merkte, dass sowohl ihre Mutter als auch der Vater in der Nacht gestorben waren.«
»Führt man nicht einen kalten Krieg gegen uns?«, fragte Zewedu Haregewoin.
Jeden Tag und jede Nacht stieg die Zahl der Toten an und stolperten mehr verängstigte, hungrige, trauernde Kinder aus den Häusern und Dörfern. Und hinter dem grausigen Raubbau, den Aids an Familien, Dörfern und landwirtschaftlichen Gemeinschaften betrieb, lauerte bereits der Tod in anderer Gestalt - in der des Hungers. Die Hungersnot wütete in den Gemeinschaften, die durch Krankheit zu sehr geschwächt waren, um sich darauf vorbereiten und es wie früher überstehen zu können, noch heftiger und vernichtender.
Eines frühen Morgens stand Haregewoin am Tor, trank eine Tasse Kaffee und blickte auf die Hügel mit ihrem hübschen grün-silbernen Patchworkmuster aus Blechdächern und Strohhütten, Maisfeldern und Bambuszäunen, dazwischen herumflatternde gelbe Kanarienvögel und grasende Ziegen mit bimmelnden Glöckchen um den Hals. Nichts an den Lehm- und Strohhütten und den Holzverschlägen war der Moderne entliehen, abgesehen von ein paar Blechteilen und Plastikplanen, die irgendwo in die Bauten hineingeflickt waren. An den vereinzelten, träge durchhängenden Strom- und Telefonleitungen zeigte sich, wie es um die Leistungen der öffentlichen Versorgungsbetriebe bestellt war. Ein Bussard mit weißer Brust und rotem Schwanz stand auf der Spitze eines Telefonmasts, bereit, sich fallen zu lassen.
Haregewoin senkte ihren Blick und entdeckte ein in ein Tuch gewickeltes Neugeborenes neben der Wellblechwand.
Sie war wie vom Donner gerührt. »Lieber Gott, ach, du lieber Gott«, rief sie und nahm das Kind hoch. »Danke, Gott, danke«, sagte sie, als sie feststellte, dass das Kind noch atmete.
In den kommenden Monaten und Jahren würde sie noch ein Neugeborenes vor ihrem Tor finden, und dann noch eines und noch eines und noch eines.
23
Bislang machte keines der Kinder, die man Haregewoin gebracht hatte, den Eindruck, als wäre es dem Tode nahe. Aber ein sehr krankes Kind war auf dem Weg zu ihr.
In einem der ärmsten Viertel von Addis Abeba lebte eine völlig mittellose junge Frau mit einem winzigen, kahlen, quengelnden Baby. Sie wickelte sich und das magere Kind in ein Tuch und schlief auf dem blanken Boden, wo immer es ihr eine mitleidige Seele erlaubte. Manchmal gab man ihnen auch ein Stück Plastikfolie, das sie zum Schutz unter sich ausbreiten konnten. Durch die Ritzen zwischen Lehmwand und Blechdach drang Regen. Tagsüber bettelte die junge Frau in den Straßen. Jeden Birr, den sie bekam, gab sie sofort für etwas zu essen aus. Wenn die Bewohner der armseligen Hütte dann merkten, dass sie nichts zu dem Haushalt beitrug, schickten sie sie weiter. Die junge Frau war zu abgemagert und zu hungrig, um genug Milch für das Baby zu produzieren, das stets unzufrieden und wütend zu sein schien. Wenn es sein Gesicht von ihrer Brust wegdrehte und frustriert losbrüllte, lief es puterrot an, seine Augen traten hervor und es ballte seine kleinen Fäuste. Selbst wenn sie es schaffte, ein Rinnsal Milch aus ihrer Brust zu pressen, war es nicht zufrieden. Sie steckte ihm ein Stückchen Zuckerrohr in den Mund; der Kleine schloss seine Lippen darum und saugte daran, und als nichts herauskam, blickte er finster und fing dann jämmerlich zu schreien an. Er schlief unruhig wie ein alter Mann und schimpfte in seinen Träumen leise auf sie. Er machte sich sogar kaum jemals nass, als könne er sich nicht darauf verlassen, dass sie ihn wieder säuberte, oder als
Weitere Kostenlose Bücher