'Alle meine Kinder'
sorgen, dass die Kinder ihr Geld bekommen. Der Onkel kann mir keine Angst machen.«
Ich begann mich zu fragen, was bei mir zu Hause geschehen würde, wenn es in unserem hübschen Viertel keine Erwachsenen mehr gäbe, die auf die Kinder aufpassen und sie beschützen.
Wenn eine Seuche Mütter, Väter, Schuldirektoren und Schülerlotsen, Kinderärzte und Trainer, Lehrer und Pfarrer, Chorleiter und die Vertreter von Kinderschutzorganisationen dahinraffen würde, wären die Kinder in Nordamerika, Europa und Australien dann sicherer als ihre schutzlosen Altersgenossen in Afrika und Asien? Würden unsere Kinder weiterhin ihre Hausaufgaben machen und zur rechten Zeit ins Bett gehen, Sport treiben und ein Instrument spielen lernen, religiöse Feiertage einhalten, vorsichtig fahren, ihre Ausbildung mit Auszeichnung abschließen, auf Colleges und Universitäten gehen, einen Beruf ergreifen, den richtigen Partner wählen und Kinder großziehen, wenn sie das alles allein machen müssten?
Jemand hat mir einmal von einem Fernsehspot im Rahmen einer Aufklärungskampagne über Aids in Afrika erzählt. Ich konnte ihn mir genau vorstellen, wenn ich ihn auch nie gesehen habe: Ein blonder amerikanischer Junge in Bluejeans, T-Shirt und Turnschuhen fährt auf seinem Fahrrad den Bürgersteig entlang, biegt in die Einfahrt zu seinem Haus ein, lässt sein Fahrrad ins Gras fallen und springt die Stufen zur Eingangstür hinauf. Sie führt in ein sauberes und behagliches Haus mit Bildern an den Wänden, bunten Kissen auf den Sofas, Schirmen in einem Messingständer - alles ist still. »Mom«, ruft er. »Mom, bist du zu Hause? Dad? Hallo, ist irgendjemand da?« Er geht durch alle Räume; die Arbeitsflächen in der Küche sind blitzblank, auf dem Tisch im Esszimmer steht eine Vase mit Blumen, auf dem Klavier liegt aufgeschlagen ein Notenheft. Aber es ist niemand zu Hause. Der Spot wird ausgeblendet, während der Junge die Treppe hinaufgeht und erneut ruft: »Ich bin wieder da! Wo steckt ihr denn alle?«
Und eine tiefe Stimme aus dem Off sagt: »Das ist zwölf Millionen afrikanischen Kindern widerfahren. Was würden Sie tun, wenn das in Ihrem Viertel passieren würde?«
Aber ich weiß nicht, ob es tatsächlich eine solche Aufklärungskampagne gegeben hat oder ob ich mir das nur eingebildet habe.
27
Haregewoin vertraute darauf, dass sie die beiden Schwestern vor den Nachstellungen ihres Onkels schützen konnte.
Sie vertraute darauf, dass sie alle schützen und ernähren konnte, all die Kinder, die zu Fuß, mit Eselskarren, Taxis oder Lastwagen zu ihr gebracht wurden; zumindest vertraute sie darauf, bis die schiere Anzahl von Kindern - mehr als dreißig im Jahr 2003 - ihre mütterlichen Fähigkeiten zu übersteigen begann.
(Neuerdings rückte man in der alten, von Mauern aus dem 16. Jahrhundert umgebenen Stadt Harar dem Aids-WaisenProblem mit einer Strategie zu Leibe, die darin bestand, dass ein Sozialarbeiter eine Gruppe von Kindern einsammelte, einen Lastwagen auslieh, nach Addis Abeba fuhr und die Kinder bei Haregewoin ablieferte. Manchmal wurde sie nur wenige Stunden vorher benachrichtigt, dass sie auf dem Weg zu ihr waren.)
Haregewoin war bei dem, was sie tat, ganz auf sich gestellt. Sie erhielt keine Unterstützung zum Unterhalt der Waisen vom Staat - weder auf kommunaler noch auf übergeordneter Ebene.
Sie wusste nichts über die Folgen sexuellen Missbrauchs für ein Kind. Sie bot Kedamawit an, sich etwas Hübsches aus dem Berg gebrauchter Kleidung auszusuchen, und versprach, den Onkel fernzuhalten. Ende der Krisenintervention.
Weder schickte man einen Sozialarbeiter, eine Krankenschwester oder einen Psychologen zu ihr, noch erhielt sie jemals eine Unterweisung in grundlegenden Fragen der Betreuung und Erziehung von Pflegekindern, kindlicher Entwicklung oder Gesundheitsvorsorge. Sie wusste alles über Trauer - mit Trauer hatte sie Erfahrung -, aber niemand brachte ihr etwas über moderne Prinzipien im Umgang mit Kindern bei, die durch den Tod von Eltern und Geschwistern traumatisiert waren. Sie wusste nichts über Kindheitstraumata.
Sie erhielt keine geschäftliche Unterweisung. Niemand vermaß ihr Haus und ihr Grundstück und teilte ihr die Kinder entsprechend dem zur Verfügung stehenden Platz, der Anzahl der Betten und dem Budget zu.
Ihr stand kein Supervisor zur Seite, kein Verwalter, kein Berater.
Die einzige Form von Strafe, die sie kannte, bestand in Schlägen, entweder mit der Hand oder einem Zweig, den man von einem
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