'Alle meine Kinder'
die Verantwortung für zu viele Kinder übernommen hatte. Die Leute sagten anerkennend: »Ach, Sie sind eine so gute Frau, eine so gute Christin.« Aber sie hatte Angst, dass sie logen und in Wahrheit dachten: Diese Frau ist so dumm. Am Ende wird sie mehr Schaden anrichten, als Gutes tun.
In jedem Zimmer und in jedem Bett schliefen zu viele Kinder.
Jeden Tag standen neue Kinder vor ihrer Tür, voller Hoffnung. Ältere Leute kamen auf Ochsenkarren oder zu Fuß vom Land und brachten kleine Kinder zu dem Haus in der Hauptstadt, wo Aids-Waisen nicht weggeschickt wurden. Jeden Tag nahm sie die Neuankömmlinge mit offenen Armen auf - jedem Kind gab sie das Gefühl, es sei erwünscht, als wäre es das Einzige gewesen, was noch gefehlt hatte, um das Glück in ihrem Heim perfekt zu machen. Sie beugte sich nach unten und versuchte, dem Kind ein Lächeln zu entlocken oder wenigstens seine Tränen zum Versiegen zu bringen. Jede Nacht lag sie verstört in einem Gewirr von kleinen Armen und Beinen in ihrem Bett.
Ist da draußen jemand?
Begreift irgendjemand, was in unserem Land vor sich geht?
Eines Nachts schlug jemand gegen das Hoftor, ein wütendes Hämmern statt des zögerlichen Klopfens eines traurigen Erwachsenen, der im Begriff war, ihr ein Kind zu übergeben.
»Ja?«, rief Haregewoin heiser, als sie im Nachthemd davorstand.
»Hier ist Ahmed. Sie haben meine Tochter da drin!«, schrie ein Mann.
»Wer ist Ihre Tochter?«
»Meskerem Ahmed.«
»Warum kommen Sie so spät?«
»Sie muss wieder nach Hause.«
»Sie haben sie nicht hergebracht. MMM hat sie hergebracht. Lassen Sie sich ein Schreiben von MMM geben.«
Sie wartete, aber es kam keine Antwort. Er war weggegangen.
Am nächsten Nachmittag kam er zurück und schwenkte das Schreiben. »Wenigstens kommen Sie dieses Mal zu einer angemessenen Zeit«, sagte sie spitz und öffnete ihm das Tor. »Meskerem!«, rief sie. »Du hast Besuch!«
Aber Meskerem - das Mädchen mit den dichten Augenbrauen, eines der ersten Kinder, die MMM ihr anvertraut hatte - lief ihrem Vater nicht entgegen, um ihn zu umarmen. Sie blieb in sicherem Abstand an der Haustür stehen.
»Komm, Meskerem«, rief er. »Es ist an der Zeit, nach Hause zurückzukehren.«
»Nein!«, brüllte das sanftmütige Mädchen zur Verblüffung aller. Niemand hatte Meskerem bis jetzt jemals die Stimme erheben hören. Sie war zurückhaltend und eine ausgezeichnete Schülerin. Schutzsuchend klammerte sie sich an die Hand ihrer besten Freundin Selamawit.
»Na los, Meskerem«, wiederholte er. »Sei ein braves Mädchen.«
»Nein!«, brüllte sie erneut. »Warum kommst du jetzt zu mir? Warum bist zu nicht zu meiner Mutter gekommen, bevor sie gestorben ist? Weißt du, wie es mir in der ganzen Zeit gegangen ist?«
Haregewoin hörte mit offenem Mund zu. Meskerem war jetzt acht Jahre alt; wer hätte gedacht, dass sie zu so viel Widerstand fähig war?
»Hat deine Frau vielleicht ein Kind bekommen?«, fragte Meskerem höhnisch von der Tür aus. »Brauchst du Hilfe im Haus? Brauchst du mich zum Wassertragen? Warum hast du dich vorher nicht um mich gekümmert?«
Damit habe er nicht gerechnet, dachte Haregewoin verwundert. Damit habe nicht einmal ich gerechnet.
»Ich zwinge sie, mitzugehen«, erklärte Ahmed Haregewoin.
»O nein, das tun Sie nicht«, sagte Haregewoin. »Sie geht nur mit, wenn sie das will.«
»Meskerem!«, rief er erneut.
»Ich denke, Sie gehen jetzt besser, Ahmed«, sagte Haregewoin.
»Das melde ich bei der Polizei«, sagte er.
»Nur zu.«
Am nächsten Tag rief ein Polizeibeamter an und forderte Haregewoin auf, Meskerem zu einem Treffen mit ihrem Vater aufs Polizeirevier zu bringen. Fest untergehakt betraten sie das Revier. »Wer ist diese Frau?«, wurde Meskerem von dem Beamten gefragt, an den Ahmed sich wegen des Sorgerechts gewandt hatte.
Meskerem klammerte sich an Haregewoins Hand und sagte: »Sie ist meine Mutter.«
Der Beamte warf einen Blick auf seine Unterlagen. »Hier steht, dass deine Mutter tot ist.«
»Ja, sie ist gestorben, aber ich habe eine neue Mutter bekommen. Ich bin wie ein eigenes Kind für sie. Ich würde eher sterben, als diese Frau zu verlassen.«
»MMM hat sie zu mir gebracht«, sagte Haregewoin. »Es war der Wünsch des ältesten Sohnes ihrer Mutter, Meskerems Halbbruder.«
»Was sagen Sie dazu?«, fragte der Beamte Ahmed.
»Sie gehört zu mir«, sagte er.
»Wenn das Kind nicht bei Ihnen leben will, dürfen Sie es nicht dazu zwingen«, sagte der Beamte. »Wenn sie
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