Alle meine Schuhe
abgelehnt. Trotzdem … »Hattest du je vor, es mir zu sagen?«
»Ich habe gehofft, dass es eines Tages möglich wäre. Allerdings hatte ich nicht die geringste Ahnung, wann der richtige Moment da sein würde.«
»Und du sagst, du hättest nicht hinter dem Rücken meines Vaters, Patricks, mit meiner Mutter geschlafen?«
»Nein, habe ich nicht.«
Trotz ihrer Verwirrung über das scheinbar Unmögliche stellte Amy erst überrascht und dann erleichtert fest, dass sie ihm glaubte. Sie wollte, dass es stimmte, aber nachdem sie sich selbst in den letzten Wochen ständig in Flunkereien geflüchtet hatte, kleinen wie großen, wusste sie einfach, dass der Mann am anderen Ende der Leitung die Wahrheit sagte. Es hätte nicht eindeutiger sein können, wenn er jetzt vor ihr stände und an einen Lügendetektor angeschlossen wäre.
Plötzlich wurde Amy klar, dass sie ihn sehen musste. Nicht etwa, um ihn doch an einen Lügendetektor anzuschließen, sondern weil sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen wollte, dem Mann, der völlig unerwartet zum Kernpunkt ihrer Reise geworden war.
Kein Weglaufen und Verstecken hinter Telefonen mehr …
»Könnte ich stattdessen zu dir kommen?«
»Wie bitte?«
»Du hast gesagt, du wollest herkommen, aber ich könnte doch auch zu dir kommen? Hättest du morgen Zeit, mir zu erzählen, was passiert ist?« Gespannt hielt sie den Atem an.
»Natürlich.«
Charlotte sah am nächsten Morgen ganz anders aus. Sie trug ein langes lilafarbenes Nachthemd und das blauschwarze Haar wurde mit einem breiten Band aus dem ungeschminkten Gesicht gehalten. Sie saß verschlafen am Tisch und blinzelte wie eine Baby-Eule im Morgenlicht.
»Mom sagt, du hättest einen Wahnsinnsabend hinter dir«, sagte sie und mied Amys Blick, während sie sich Orangensaft in ein hohes Glas goss.
»Mhm, so in etwa«, erwiderte Amy. »Deine Mom war unheimlich nett zu mir. Ach und danke, dass du mir einen Pyjama geliehen hast.«
Charlotte zuckte mit den Schultern, schnappte sich das Glas und marschierte in Richtung Tür.
»Tschüs«, rief Amy ihr hinterher.
»Viel Glück«, lautete die kaum hörbare Antwort, während Charlotte zurück auf ihr Zimmer ging.
Amy trank einen Becher Jasmintee. Maddy arbeitete schon seit sechs Uhr früh in ihrem Atelier. Amy sah sich in der Küche um und dachte erneut, wie sonderbar das Leben doch war. Der Weg, der sie hergebracht hatte nach Miami, in Maddys Küche und zu der Entdeckung, dass Sergei ihr Vater war, war anders als jede Reise, die sie bisher unternommen hatte. Sie würde sie würdigen und gut in Erinnerung behalten: der alte Mann bei der Totenwache; Debs und Gabriel; die geschwollenen Füße der schwangeren Sophie; der kleine Harry, der draußen vor dem Festzelt heimlich rauchte; Assante; Maddys und Charlottes lustiges und ungewöhnliches Zuhause; die Schuhskulptur … mit Justin Schluss zu machen … Jack Devlin … Sie umschloss den Teebecher mit beiden Händen und schüttelte lächelnd den Kopf.
Was für eine Reise. Und sie ist noch nicht vorbei.
Als sie kurz darauf das Atelier betrat, haute die Schuhskulptur sie förmlich um. Dieses Mal wirkte sie souverän und unnahbar wie eine Katze, die sich nach einem ausgiebigen Schlaf vor dem Feuer rekelt.
Maddy hatte Amy den Rücken zugewandt. Sie stand an ihrer Werkbank und begutachtete ein Stück Stacheldraht.
»Ich bin nicht gut im Abschiednehmen«, murmelte sie. »Bist du so weit?«
»Ja«, antwortete Amy. »Maddy … ich weiß nicht, wie ich dir danken soll …«
»Keine Ursache!« Maddy hob die Hand. »Nicht nötig.«
Ihre Verlegenheit ließ Amy lächeln. »Danke, Maddy. Dafür, dass du mich aufgenommen, mir zugehört und mich ermutigt hast, Sergei anzurufen … meinen Vater.«
»Bin sicher, dass du das auch ohne mich getan hättest«, erwiderte Maddy und spielte mit dem Draht.
Amy wollte zu ihr hinlaufen und sie drücken, aber sie erinnerte sich daran, wie verlegen Maddy am Tag zuvor geworden war, also blieb sie einfach stehen – auf die höfliche britische Art.
»Da bin ich mir nicht sicher. Wie auch immer, es war … großartig, eine Nacht lang zu deiner Familie zu gehören. Ich habe nicht oft Gelegenheit zu so etwas.«
Maddy schaute sich zu ihr um und musste jetzt doch glücklich lächeln. »Es ist ja eigentlich nur ein Teilzeit-Familien-Zuhause.«
»Nein, es ist viel mehr!« Amy lachte. »In dem Punkt kannst du mir ruhig vertrauen: Du hast ein wundervolles Zuhause geschaffen. Ich werde es nie
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