Alle meine Schuhe
freundlich … und doch konnte Amy auf den ersten Blick sehen, dass er während der letzten vierundzwanzig Stunden nicht sonderlich viel geschlafen hatte.
Während sie auf ihn zuging, lächelte sie nervös. »Du siehst müde aus.«
Er kam die wenigen Stufen hinunter und eilte ihr entgegen. »Jetzt nicht mehr.«
Amy hatte damit gerechnet, zu weinen, wenn er sie in die Arme nahm, aber sie tat es nicht. Das alles war so seltsam und aufregend. Sie versuchte, jedes Detail zu registrieren und bewusst zu spüren, wie sie einander umarmten.
Ich umarme meinen Vater. Sergei Miskov! Oh Dad – Patrick -, falls du uns sehen kannst, ist es in Ordnung? Es fühlt sich nämlich … gut an …
Sergei löste sich von ihr, fasste ihre Hände und sah sie an, mit dunklen Schatten unter seinen strahlenden Augen.
Diese Augen sind wirklich genau wie meine. Daran gibt es wohl nicht mehr den Hauch eines Zweifels.
Sergei drehte sich zu Antonio um, der ein bisschen verlegen neben dem Kofferraum von Amys Auto stand.
»Antonio, ich möchte dir hiermit offiziell meine Tochter Amy vorstellen!«
Antonio sah beide einen Moment lang an und nickte dann lächelnd. »Maria ahnte so etwas. Willkommen, Amy.«
»Lisa und die Mädchen sind drinnen, sie erwarten dich.« Er bot ihr den Arm an, und sie hakte sich ein, schmiegte sich eng an ihn.
»Sergei, weiß Lisa Bescheid? Habe ich dich gestern Nacht in Schwierigkeiten gebracht?«
Er tätschelte ihr die Hand. »Ja, Lisa weiß alles. Ich habe ihr schon vor langer Zeit davon erzählt. Sie freut sich darauf, dich kennenzulernen.«
Lisa war genauso, wie Amy sie sich vorgestellt hatte: groß, wunderschön, warmherzig, mit einem strahlenden Lächeln, das all die Fotos im Haus nicht wiedergeben konnten. Ihr volles blondes Haar fiel über die Schultern, und sie bewegte sich mit einer Grazie, dass man sie glatt für eine Tänzerin halten konnte. Aber Sergei hatte Amy bereits bei einer früheren Gelegenheit erzählt, dass Lisa schon als Teenager die Ballettschuhe an den Nagel gehängt hatte, um an der Universität Philologie zu studieren. Dadurch hatten sie sich auch vor acht Jahren kennengelernt. Lisa war als Dolmetscherin für eines von Sergeis russischen Ensembles engagiert worden, als dieses ein Gastspiel in der berühmten Carnegie Hall gab. Sergei sagte, er hatte bereits in dem Moment, als Lisa zum ersten Mal das Theater betrat, gewusst, dass er sie heiraten würde.
Falls sich Lisa mit dieser Situation schwertat, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken.
»Das muss für Sie sehr merkwürdig sein«, stammelte Amy. »Es tut mir leid …«
»Amy«, unterbrach Lisa sie. »Ich habe von dir gewusst, seit ich Sergei kenne, und mir oft vorgestellt, wie es sein würde, wenn wir einander endlich begegnen. Was mich angeht, so hast du immer zu Sergeis Familie gehört und dass er glücklich ist, macht auch mich glücklich.«
Amy konnte sich kaum vorstellen, dass diese souveräne, elegante Frau nur wenige Jahre älter war als sie selbst. Lisa führte Amy ins Wohnzimmer, das seit ihrem letzten Besuch kaum wiederzuerkennen war. Überall lagen Stofftiere und Bilderbücher herum und mittendrin stand ein riesiges rosa Schloss. In dem Chaos saßen zwei kleine Mädchen, die sich um eine Stoffschildkröte stritten.
»Anna! Katya! Der arme Speedy! Hört auf, bevor ihr ihm noch den Kopf abreißt!«
Die beiden Mädchen ignorierten ihre Mutter und spielten weiter Tauziehen um den armen Speedy.
»Er gehört mir!«
»Aber jetzt will ich mit ihm spielen!«
»Mädchen, wir haben einen Gast!«
Amy musste innerlich lächeln. Wir haben einen Gast. Offenbar tat sich Lisa doch schwerer damit, die Tochter ihres Mannes willkommen zu heißen, als sie zugeben wollte.
Einen Gast. Andererseits, was hätte sie denn sonst sagen sollen? »Mädchen, eure Halbschwester ist da!« Wohl kaum …
Aber Lisa war ehrlich, was Amy gefiel. Sie hatte nicht etwa behauptet, begeistert zu sein über Amys Besuch und diesen Tag seit Jahren sehnlichst erwartet zu haben. Stattdessen versuchte sie einfach, mit der Situation zurechtzukommen.
Sergei folgte den beiden ins Wohnzimmer, während der Streit der Mädchen ein schnelles Ende fand. Eine ihnen unbekannte Person hatte den Raum betreten und Speedy war vergessen.
Lisa überließ es Sergei, alle einander vorzustellen. »Anna, Katya, das ist Amy. Erinnert ihr euch, dass wir von ihr erzählt haben?«
»H-hallo«, stotterte Amy.
Die Mädchen standen nebeneinander und sagten im Chor, was man
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