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Alle meine Wünsche (German Edition)

Alle meine Wünsche (German Edition)

Titel: Alle meine Wünsche (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grégoire Delacourt
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seinen alten knochigen Armen wie in einer Klammer.
    Ich hatte aus Abscheu über meinen Mann geweint. Ich hatte meinen mörderischen Körper geritzt; die Spitze des Fleischmessers hatte Schreie auf meine Unterarme gezeichnet; ich hatte mein Gesicht mit meinem schuldigen Blut beschmiert. Ich war verrückt geworden. Jos Grausamkeit hatte mich ausgezehrt, hatte meine Kräfte zermürbt. Ich hatte mir die Zunge abgeschnitten, um ihn zum Schweigen zu bringen, ich hatte mir die Ohren abgerissen, um ihn nicht mehr zu hören.
    Und als der alte Doktor Caron mit seinem schlechten Atem sagte, ich schicke Sie zur Kur, ganz allein, drei Wochen, ich werde Sie retten, Jocelyne, da brachte sein schlechter Atem das Licht.
    Und ich war weggefahren.
    Nizza, Centre Sainte-Geneviève. Die Dominikanernonnen waren reizend. Beim Anblick ihres Lächelns hätte man meinen können, es gebe keine menschliche Abscheulichkeit, die sie nicht verstehen und deshalb vergeben würden. Ihre Gesichter strahlten wie die der Heiligen auf den kleinen Lesezeichen in den Messbüchern unserer Kindheit.
    Ich teilte das Zimmer mit einer Frau in dem Alter, das meine Mutter gehabt hätte. Wir waren beide, wie die Schwestern sagten, leichte Patientinnen. Wir mussten uns erholen. Uns wiederfinden. Uns wiederentdecken. Uns neu zu schätzen lernen. Uns endlich versöhnen. Als leichte Patientinnen hatten wir Anrecht auf Ausgang.
    Jeden Tag bin ich nach der Mittagsruhe zum Strand gegangen.
    Ein ungemütlicher Strand, voller Steine. Ohne das Meer wäre er wie ein Stück Brachland. Um die Zeit, wo ich dort bin, brennt die Sonne auf den Rücken, wenn man aufs Meer schaut. Ich creme mich ein. Meine Arme sind zu kurz.
    »Lassen Sie mich Ihnen helfen.«
    Mein Herz macht einen Sprung. Ich drehe mich um.
    Er sitzt zwei Meter entfernt. Er trägt ein weißes Hemd, eine beigefarbene Hose. Er ist barfuß. Wegen der Sonnenbrille sehe ich seine Augen nicht. Ich sehe seinen Mund. Seine fruchtfarbenen Lippen, aus denen soeben diese fünf kühnen Worte gekommen sind. Sie lächeln. Da drängt die uralte Vorsicht all meiner weiblichen Vorfahren an die Oberfläche.
    »Das macht man nicht.«
    »Was macht man nicht? Ihnen helfen wollen oder es annehmen?«
    Mein Gott, ich werde rot. Ich greife nach meiner Bluse, lege sie mir über die Schultern.
    »Ich wollte sowieso gerade gehen.«
    »Ich auch«, sagt er.
    Wir rühren uns nicht. Mein Herz rast. Er ist schön, und ich bin nicht hübsch. Er ist ein Jäger. Ein Verführer. Ein gemeiner Kerl, kein Zweifel. In Arras spricht dich niemand einfach so an. Kein Mann wagt es, mit dir zu reden, ohne vorher gefragt zu haben, ob du verheiratet bist. Oder auch nur, ob du mit jemandem zusammen bist. Er nicht. Er kommt herein, ohne anzuklopfen. Mit einem Schulterstoß. Stellt den Fuß in die Tür. Und das gefällt mir. Ich richte mich auf. Er steht schon. Er bietet mir seinen Arm an. Ich stütze mich darauf. Meine Finger spüren die Wärme seiner gebräunten Haut. Das Salz hat darauf Ritzspuren von schmutzigem Weiß zurückgelassen. Wir verlassen den Strand. Wir gehen die Promenade des Anglais entlang. Kaum ein Meter trennt uns. Etwas weiter, als wir vor dem Negrosco sind, greift seine Hand nach meinem Ellbogen; er führt mich über die Straße, als wäre ich blind. Ich mag diesen Schwindel. Ich schließe die Augen, bin ihm ganz und gar ausgeliefert. Wir betreten das Hotel. Mein Herz rast. Ich verliere den Verstand. Was ist mit mir los? Werde ich mit einem Unbekannten schlafen? Ich bin verrückt.
    Aber sein Lächeln beruhigt mich. Dann seine Stimme.
    »Kommen Sie. Ich lade Sie auf einen Tee ein.«
    Er bestellt zwei Orange Pekoe.
    »Das ist ein leichter Tee, er kommt aus Ceylon, nachmittags sehr angenehm zu trinken. Waren Sie schon mal in Ceylon?«
    Ich lächle. Ich schlage die Augen nieder. Ich bin fünfzehn. Ein Backfisch.
    »Das ist eine Insel im Indischen Ozean, kaum fünfzig Kilometer vor Indien. 1972 wurde sie zu Sri Lanka, als …«
    Ich unterbreche ihn. »Warum machen Sie das?«
    Er stellt sorgsam seine Tasse Orange Pekoe ab. Dann nimmt er mein Gesicht zwischen seine Hände. »Ich habe Sie vorhin von hinten am Strand gesehen, und die Einsamkeit Ihres Körpers hat mich gerührt.«
    Er ist schön. Wie Vittorio Gassman in Der Duft der Frauen .
    Da strecke ich ihm mein Gesicht entgegen, meine Lippen suchen seine, finden sie. Das ist ein seltener, unerwarteter Kuss; ein warmer Kuss, der nach Indischem Ozean schmeckt. Das ist ein Kuss, der dauert, ein Kuss,

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