Alle meine Wünsche (German Edition)
ein paar Reißverschlüsse, Nadeln und Faden, falls man lieber die Sachen des letzten Jahres reparieren will, als neue zu kaufen.
Vor Weihnachten Schnittmuster für Kostümfeste. Die Prinzessin bleibt der Verkaufsschlager, gefolgt von Erdbeere und Kürbis. Bei den Jungen läuft der Pirat gut, im letzten Jahr waren alle ganz verrückt nach dem Sumo-Ringer.
Dann ist bis zum Frühling Ruhe. Ein paar Nähkästen, zwei oder drei Nähmaschinen und Stoff vom Meter. Während ich auf ein Wunder warte, mache ich Handarbeiten. Meine Strickwaren verkaufen sich ganz gut. Vor allem Schlafsäckchen für Neugeborene, Schals und gehäkelte Baumwollpullover.
Zwischen zwölf und zwei Uhr schließe ich den Laden und gehe nach Hause, um allein zu essen. Wenn das Wetter schön ist, sitze ich manchmal mit Danièle und Françoise auf der Terrasse des Estaminet oder des Café Leffe auf der Place des Héros und esse einen Croque.
Die Zwillinge sind hübsch. Ich weiß schon, dass sie mich benutzen, um ihre schlanken Taillen, ihre langen Beine und ihre entzückend scheuen, hellen Rehaugen zur Geltung zu bringen. Sie lächeln die Männer an, die allein oder zu zweit essen, sie kokettieren und manchmal gurren sie. Ihre Körper senden Botschaften aus, ihre Seufzer sind eine Flaschenpost, und manchmal fischt ein Mann eine auf, für einen Kaffee, ein geflüstertes Versprechen, eine Enttäuschung – den Männern fehlt es so schrecklich an Phantasie; dann wird es Zeit, unsere Läden wieder aufzumachen. Immer in diesem Moment, auf dem Rückweg, kommen unsere Lügen ans Tageslicht.
Ich habe die Nase voll von dieser Stadt, sagt Danièle, ich habe das Gefühl, in einer Geschichtsbroschüre zu leben, arrrrr, ich ersticke, in einem Jahr bin ich weit weg, in der Sonne, ich lasse mir die Brüste neu machen.
Wenn ich Geld hätte, fügt Françoise hinzu, würde ich alles stehen- und liegenlassen, von heute auf morgen. Und du, Jo?
Ich wäre schön und schlank, und niemand würde mich mehr anlügen, nicht mal ich. Aber ich antworte nicht, ich beschränke mich darauf, die hübschen Zwillinge anzulächeln. Zu lügen.
Wenn wir keine Kundinnen haben, bieten sie mir immer eine Maniküre oder eine Föhnfrisur oder eine Maske oder ein Schwätzchen an, wie sie sagen. Ich stricke ihnen dafür Mützen oder Handschuhe, die sie nie tragen. Dank ihnen bin ich zwar rund, aber gepflegt, manikürt; ich bin auf dem Laufenden über die Affären der einen und der anderen, die Probleme von Denise im Maison du Tablier mit dem tückischen Wacholderschnaps und seinen 49 Prozent, von der Schneiderin bei Charlet-Fournie, die zwanzig Kilo zugenommen hat, seit sich ihr Mann in den Shamponneur bei Jean-Jac verknallt hat, und wir haben alle drei das Gefühl, die drei wichtigsten Personen der Welt zu sein.
Jedenfalls von Arras.
Wenigstens von unserer Straße.
S o weit. Ich bin siebenundvierzig.
Unsere Kinder sind aus dem Haus. Romain ist in Grenoble, im zweiten Lehrjahr einer Handelsschule. Nadine ist in England, sie macht Babysitting und Videofilme. Ein Film von ihr wurde bei einem Festival gezeigt, sie hat einen Preis gewonnen, und seither haben wir sie verloren.
Zum letzten Mal haben wir sie Weihnachten gesehen.
Als ihr Vater sie gefragt hat, was sie macht, hat sie eine kleine Kamera aus ihrer Tasche geholt und an den Radiola angeschlossen. Nadine mag die Worte nicht. Sie spricht sehr wenig, seit sie spricht. Sie hat zum Beispiel nie gesagt: Maman, ich habe Hunger. Sie ist aufgestanden und hat sich was zu essen genommen. Sie hat nie gesagt: Ich muss dir mein Gedicht, meine Aufgaben, mein Einmaleins aufsagen. Sie behielt ihre Worte in sich, als wären sie kostbar. Wir vereinigten unser Schweigen, sie und ich: Blicke, Gesten, Seufzer anstelle von Subjekt, Verb, Objekt.
Auf dem Bildschirm erschienen Schwarzweißbilder von Zügen, Gleisen, Weichen; am Anfang war es ganz langsam, dann wurde es allmählich schneller, die Bilder überlagerten sich, der Rhythmus wurde berauschend, faszinierend; Jo stand auf und holte sich ein alkoholfreies Bier aus dem Kühlschrank; ich konnte die Augen nicht vom Bildschirm lösen, meine Hand griff nach der meiner Tochter, Subjekt , Wellen durchströmten meinen Körper, Verb , Nadine lächelte, Objekt . Jo gähnte. Ich weinte.
Als der Film zu Ende war, sagte Jo: In Farbe, mit Ton und auf einem Flachbildschirm wäre dein Film nicht schlecht, Töchterchen, und ich sagte: Danke, danke, Nadine, ich weiß nicht, was du mit deinem Film sagen willst,
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