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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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worden, um in den Minen von Potosi zu arbeiten. So war es in allen Dörfern, durch die wir kamen, bis zum Fuße des Vulkans.
    Mit Schnee gekrönt und flammenspeiend erhob sich der Potosi auf einem 4000   Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Hochplateau; die Flanken des Berges waren von einem Labyrinth von Schächten durchzogen, in denen man Silber schürfte bis zu einer Tiefe von 500   Klaftern. An seinem Fuße war eine Stadt im Entstehen begriffen; ich streifte zwischen den Holzbaracken umher, bemüht, meine Reisegefährten wiederzufinden. Kaum zehn davon traf ich noch an, die anderen waren unterwegs ums Leben gekommen. Diejenigen, die den Potosi erreicht hatten, vertrugen kaum das Klima der Hochebene; die Frauen litten an Bergkrankheit; die Kinder kamen blind und taub zur Welt und starben nachwenigen Wochen. Sie sagten mir, daß ein alleinstehender Bergmann gerade genug Silber schürfen könne, um nicht Hungers zu sterben; sie hatten es alle aufgegeben, sich Schätze zu erwerben oder auch nur so viel zurückzulegen, um eines Tages wieder heimkehren zu können. Nur die großen Unternehmer wurden reich, die auf ihre Rechnung Herden von Indianern arbeiten ließen.
    «Da sehen Sie», sagte mein junger Führer. «Da sehen Sie, was sie gemacht haben aus den Männern meines Stammes.»
    Zum erstenmal erbebte seine leidenschaftslose Stimme, und beim Schimmer der Fackeln sah ich Tränen in seinen Augen. In den düsteren Schächten fronte ein ganzes Volk, das kein Volk von Menschen mehr war, sondern nur noch Larven; sie hatten weder Fleisch noch Glieder, ihre braune Haut klebte an den Knochen, die so dürr aussahen wie abgestorbenes Holz; sie hatten keinen Blick und schienen nichts zu hören; mit Bewegungen wie von Automaten beklopften sie die Wände, manchmal rollte ohne einen Laut eines dieser Skelette auf den Boden, man schlug dann mit der Peitsche oder einer Eisenstange darauf ein; erhob er sich nicht rasch genug, wurde er erledigt. Mehr als fünfzehn Stunden am Tag durchsuchten sie die Erde, und sie wurden nur kümmerlich mit einer Art von Brot aus zerstampften Wurzeln ernährt. Keiner unter ihnen lebte länger als drei Jahre.
    Vom Morgen bis zum Abend zogen mit Silber beladene Karawanen an die Küste hinab. Jede Unze Metall war mit einer Unze Blut bezahlt. Die Truhen des Kaisers blieben leer, seine Völker verkamen in Elend. Wir hatten eine Welt zerstört und hatten nichts gewonnen.
     
    «Ich bin also überall gescheitert», sagte Karl   V.
    Die ganze Nacht durch hatte ich erzählt, und der Kaiser hatte mir schweigend zugehört. Das Tageslicht drang in sein Zimmer mit den schweren Vorhängen ein, und der ersteSchimmer des Morgens lag auf seinem Gesicht. Mein Herz zog sich zusammen. In den letzten drei Jahren war er zum Greis geworden; seine Augen waren trübe, seine Lippen blutlos, und sein Atem ging schwer. Er saß tief in seinem Sessel, ein Stock mit elfenbeinernem Knopf ruhte auf der Decke, die seine von Gicht verzerrten Beine umhüllte.
    «Warum?» sagte er.
    Während der drei Jahre meiner Abwesenheit war er von Moritz von Sachsen verraten worden, der sich an die Spitze der protestantischen Truppen gestellt hatte; er hatte vor dem Rebellen fliehen und einen Vertrag annehmen müssen, der mit einem Schlag alle Bestrebungen seines Lebens zugunsten der religiösen Einheit vernichtete. Er hatte in Flandern Schiffbruch erlitten, wo es ihm nicht gelungen war, die von Heinrich   II. hinterlassenen Territorien zu übernehmen; neue Aufstände waren in Italien ausgebrochen, und die Türken setzten ihm zu.
    «Warum?» wiederholte er. «Was für einen Fehler habe ich gemacht?»
    «Ihr einziger Fehler war, zu regieren», sagte ich.
    Er berührte das Kleinod des Goldenen Vlieses, das auf dem Samt seines Wamses ruhte.
    «Ich wollte nicht regieren», sagte er.
    «Ich weiß es», sagte ich.
    Ich blickte in sein runzeliges Gesicht, auf seinen grauen Bart, seine glanzlosen Augen. Zum erstenmal fühlte ich mich älter als er, älter als jemals ein Mensch gewesen war, und er kam mir erbarmenswert vor wie ein kleines Kind.
    «Ich habe mich getäuscht», sagte ich. «Ich wollte Sie zum Herrn des Universums machen. Es gibt kein Universum.»
    Ich erhob mich und schritt durch das Zimmer; ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, und meine Beine waren steif. Jetzt hatte ich vollends verstanden: Carmona war zu klein, Italien war zu klein, ein Universum gab es nicht.
    «Welch ein bequemes Wort!» sagte ich. «Was hatten alle diese

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