Alle Menschen sind sterblich
Erde mit dem Fuß, um eine Stelle zu entdecken, die fest genug für mein Nachtlager wäre, als ich in der Ferne einen Wasserspiegel rosig schimmern sah. Ich ging näher heran. Zwischen Binsen und Ufergras schlängelte sich ein Fluß.
Hundert Jahre, ja sogar fünfzig Jahre zuvor hätte mein Herz höher geschlagen, und ich hätte gedacht: ich habe einen großen Fluß entdeckt und bin der einzige, der das Geheimnis kennt. Jetzt aber spiegelte der Strom den rosigen Himmel wider, ohne daß es mich rührte; was ich dachte, war nur: ich kann diesen Fluß nicht bei Nacht überqueren. Sobald ich an eine Stelle kam, die vom ersten Frost gehärtet war, warf ich meinen Mantelsack auf den Boden und nahm meine Pelzjacke her; dann hieb ich mit der Axt von einem Baumstumpf einen kräftigen Ast ab und machte Feuer damit. Jeden Abend zündete ich ein Feuer an, damit ich, der ich ganz auf meine Gesellschaft angewiesen war, in der Dunkelheit wenigstens ein Prasseln spürte, einen Duft, ein Leben, das rotglühend von der Erde an den Himmel griff. DerStrom floß so ruhig dahin, daß man kaum das Murmeln seiner Wellen vernahm.
«Hallo! Hallo!»
Ich zuckte jäh zusammen. Es war eine menschliche Stimme, die Stimme des weißen Mannes.
«Hallo! Hallo!»
Nun rief ich zurück; ich warf einen Armvoll Holz in die aufzüngelnden Flammen; immer rufend näherte ich mich dem Fluß und bemerkte am anderen Ufer ein kleines Licht; auch er hatte ein Feuer angezündet. Er rief Worte, die ich nicht verstand, doch schien mir, daß er Französisch sprach. Unsere Stimmen kreuzten sich in der feuchten Luft, aber zweifellos konnte der Unbekannte meine Worte nicht besser hören als ich die seinigen. Als er schließlich schwieg, rief ich dreimal: «Bis morgen!»
Ein Mann; ein weißer Mann. In meine Decken gewickelt, fühlte ich die Wärme des Feuers auf meinem Gesicht, und ich dachte: seitdem ich Mexiko verlassen habe, habe ich kein weißes Gesicht mehr gesehen. Das ist jetzt vier Jahre her. Schon begann ich zu zählen. Eine Flamme züngelte am anderen Ufer des Flusses, und schon sagte ich zu mir selbst: «Jetzt ist es vier Jahre her, daß ich keinen Weißen mehr gesehen habe.» Durch die Nacht hindurch hatte sich zwischen uns ein Dialog angesponnen: Wer ist er? Woher kommt er? Was will er? Auch er stellte mir diese Fragen, und ich antwortete. Ich antwortete. Hier am Ufer dieses Flusses stand ich auf einmal wieder mit einer Vergangenheit, einer Zukunft und einem Schicksal beladen da.
Vor hundert Jahren hatte ich mich in Vlissingen eingeschifft, um eine Reise um die Welt zu machen. Ich hoffte, der Menschen entraten zu können. Ich wollte nichts mehr sein als ein Blick. Ich hatte Ozeane so gut wie Wüsten durchmessen, war auf chinesischen Dschunken gefahren und hatte in Kanton ein Brot aus reinem Gold bewundert, das man auf200 Millionen schätzte; ich hatte Kathung besucht und die Robe eines Priesters angelegt und hatte die tibetische Hochebene erklommen. Ich hatte Malakka gesehen, Kalkutta und Samarkand, und hatte in Kambodscha einen Tempel betrachtet, der ausgedehnt war wie eine Stadt und an die hundert Türme trug; ich hatte an der Tafel des Großmoguls gespeist und an der des Perserschahs Abalanas; ich hatte mir einen noch unbekannten Weg durch die Inseln des Stillen Ozeans gebahnt und gegen die Patagonier gekämpft; endlich, nachdem ich in Vera Cruz gelandet war und Mexiko erreicht hatte, war ich allein und zu Fuß durch das unentdeckte Herz des Kontinents gewandert, und seit vier Jahren schon durchmaß ich Prärien und Wälder, ziellos, ohne Kompaß, verloren unter dem Himmel und in der Ewigkeit. Eben noch verloren. Aber jetzt befand ich mich an einem ganz bestimmten Punkt der Erde, deren Länge und Breite man mit einem Astrolabium hätte bestimmen können; auf alle Fälle war ich im Norden von Mexiko; aber wieviel tausend Meilen entfernt? Im Osten oder im Westen? Der Mann, der auf dem anderen Ufer schlief, wußte, wo ich war.
Gleich beim Morgengrauen streifte ich meine Kleider ab, packte sie mit meiner Schlafdecke in meinen Sack aus Büffelleder, den ich mir auf den Rücken schnallte, und warf mich in den Fluß; das eisige Wasser benahm mir den Atem, aber die Strömung war schwach, und ich kam richtig am anderen Ufer an. Nachdem ich mich mit einem Zipfel der Decke trockengerieben hatte, kleidete ich mich an. Der Fremde lag und schlief neben einem Aschenhäufchen. Er war ein Mann von etwa 30 Jahren mit Haaren von lichtem Kastanienbraun; ein
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