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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Opfer zu bedeuten: das Universum lag im Schoß der Zukunft für uns. Was bedeuteten Scheiterhaufen, der Mord an Tausenden? Das Universum war anderswo, immer anderswo! Und tatsächlich ist es nirgends: es gibt immer nur Menschen, die auf ewig getrennt sind.»
    «Die Sünde ist das Trennende», bemerkte der Kaiser dazu.
    «Die Sünde?» fragte ich.
    War es Sünde? War es Wahn? War es noch etwas anderes? Ich mußte an Luther denken, an die Augustiner, die Frauen der Wiedertäufer, die in den Flammen sangen, an Antonio, an Beatrice. In ihnen allen war eine Kraft, die alle Voraussicht meiner Vernunft einfach zunichte machte und sie gegen die Kräfte meines Willens feite.
    «Einer der ketzerischen Mönche, die wir haben verbrennen lassen, hat mir vor seinem Tode gesagt: es gibt nur ein einziges Gut: nach seinem Gewissen zu handeln. Wenn das wahr ist, so ist es ein eitles Bestreben, über die Welt herrschen zu wollen; man kann nichts tun für die Menschen, ihr Wohl hängt einzig von ihnen selber ab.»
    «Es gibt nur ein einziges Gut: nach seinem Heil zu streben», sagte Karl.
    «Und glauben Sie, daß Sie auch den anderen zum Heil verhelfen können oder nur sich selbst?»
    «Nur mir selbst, mit der Gnade Gottes», antwortete er mir.
    Er legte die Hand auf seine Stirn. «Ich glaubte, es sei an mir, mit Gewalt den anderen dazu zu verhelfen; und das war mein Fehler: es war die Versuchung des Bösen.»
    «Ich wollte ihr Glück machen», sagte ich. «Aber man kommt nicht an sie heran.»
    Ich schwieg; ich glaubte das Geschrei ihrer Festesfreude zu hören und ihr Blutgeheul; ich hörte auch die Stimme des Propheten Enoch: «Man muß alles zerstören, was ist!» Gegenmich predigte er, gegen mich, der ich aus dieser Erde ein Paradies machen wollte, in dem jedes Sandkorn seinen Platz haben und sich jede Blüte zu ihrer Stunde hatte entfalten sollen. Aber sie waren weder Pflanze noch Stein; sie wollten nicht in Steine verwandelt werden.
    «Ich hatte einen Sohn», sagte ich. «Er hat den Tod gewählt, weil ich ihm keine andere Art zu leben übrigließ. Ich hatte eine Frau, und weil ich ihr alles gegeben habe, ist sie lebendig gestorben. Und andere haben wir verbrannt, und mit ihrem letzten Hauch haben sie uns gedankt. Sie wollen nicht das Glück, sondern sie wollen leben.»
    «Was heißt leben?» fragte Karl. Er schüttelte den Kopf. «Dieses Leben ist nichts. Was für ein Wahnsinn, eine Welt des Nichts beherrschen zu wollen.»
    «Es gibt Augenblicke, wo sie ein Feuer im Herzen brennen fühlen, und das nennen sie leben.»
    Plötzlich trat mir eine Flut von Worten auf die Lippen; vielleicht war dies das letzte Mal auf Jahre, auf Jahrhunderte hinaus, das mir zu reden gegeben war.
    «Ich verstehe sie», sagte ich. «Jetzt verstehe ich sie. Was in ihren Augen Wert hat, ist niemals, was sie bekommen, sondern was sie tun. Wenn sie nicht schaffen können, dann müssen sie zerstören, aber auf alle Fälle lehnen sie das Bestehende ab, sonst wären sie keine Menschen. Und uns, die wir vorgeben, die Welt für sie zu gestalten und ihnen darin einen Platz anzuweisen, vermögen sie nur zu hassen. Jene Ordnung, jene Ruhe, die wir für sie erträumen, ist in ihren Augen der allerschlimmste Fluch   …»
    Karl hatte den Kopf in die Hände gelegt, er hörte auf meine Reden nicht mehr, die ihm unverständlich klangen. Er betete.
    «Man kann nichts für und nichts wider sie», hob ich nochmals an. «Man kann einfach nichts.»
    «Man kann beten», sagte der Kaiser.
    Er war bleich, wie immer, wenn sein Bein ihn schmerzte.
    «Die Prüfung ist am Ende», sagte er. «Sonst hätte mir Gott einen Funken Hoffnung im Herzen gelassen.»
    Einige Wochen darauf zog sich Karl   V. in ein kleines Haus in Brüssel zurück, das inmitten eines Parks am Löwener Tor gelegen war; es war ein Gartenhaus mit einem einzigen Stockwerk, angefüllt von Uhren und wissenschaftlichen Instrumenten; das Zimmer des Kaisers war eng und kahl wie eine Mönchszelle. Als der Tod des Moritz von Sachsen ihn von seinem ärgsten Feinde befreite, lehnte er es ab, daraus Vorteil zu ziehen; er hatte aufgehört, sich mit deutschen Fragen zu beschäftigen oder die Kaiserkrone für seinen Sohn zu erstreben. Zwei Jahre verwendete er daran, seine Geschäfte zu ordnen, und alle seine Unternehmungen waren damals von Erfolg gekrönt. Er vertrieb die Franzosen aus Flandern, unterzeichnete den Vertrag von Vaucelles und brachte die Heirat Philipps mit Maria Tudor, der englischen Königin, zustande. Doch sein

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