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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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irgendein Volk des alten Kontinents.
    Bevor ich in die Stadt eintrat, ritt ich den Hügel hinan; die Ruinen auf seinem Gipfel waren die der Festung, in denen sich der Kaiser gegen Pizarros Truppen verschanzt hatte; sie hatte drei konzentrische Mauern, aus Blöcken von düsterem Kalkstein erbaut, die in vollendeter Weise ineinandergefügt waren. Ich hielt mich geraume Zeit inmitten dieser Steine auf.
    Die Umfassungsmauer von Cuzco war nicht völlig zerstört, mehrere Türme standen noch; auch in den Straßen gab es noch ein paar schöne Häuser aus Stein. Aber in den meisten Fällen waren nur die Grundmauern unversehrt geblieben, und die Spanier hatten in Eile auf ihnen ein paar Stockwerke aus leichten Ziegelsteinen errichtet. Trotz ihrer begnadeten Lage und der zahlreichen Einwohnerschaft aus Kolonisten und Indianern schien die Stadt wie erdrückt von einem düsteren Fluch. Die Spanier beklagten sich über die Härte des Klimas und über den Haß, von dem sie sich rings umgeben fühlten. Sie erzählten mir, daß jedes Jahr bei der Wiederkehr des Tages, an dem die Eroberer eingezogen waren, die eingeborenen Greise ihr Ohr an den Boden drückten in der Hoffnung, das Grollen des unterirdischen Flusses zu hören, der eines Tages alle Spanier wieder hinwegspülen sollte.
    Nur ein paar Tage hielten wir uns in Cuzco auf, dann setzten wir unsere Reise fort. Die Luft der Hochebene war so trocken und kalt, daß wir oft am Wegrand auf den Kadaver eines mumifizierten Maulesels stießen: in dieser Gegend zersetzten die Leichen sich nicht. In größeren Abständen trafen wir Ruinen an: Paläste, Tempel, Festungen, riesige Bauwerke, die, ohne Bögen oder Gewölbe aus drei- oder sechseckigen Luftziegeln erbaut, jetzt in Trümmern lagen. Am äußersten Ende eines großen, ausgetrockneten Seesfanden wir Spuren der Prachtstadt Piahocanacao; auf dem Boden lagen zerborstene Stücke von Porphyr und Granit; was einst ein Tempel gewesen war, bildete heute nur noch einen Trümmerberg; die einstigen Straßen waren nur noch durch gerade ausgerichtete Reihen großer Steine bezeichnet; bis weit in die Landschaft hinein waren die Ausfallstraßen mit gigantischen, grob gehauenen Bildern besetzt.
    Alle Dörfer, durch die wir kamen, lagen verödet da; die meisten waren in Asche gelegt. Einmal bemerkten wir einen Greis auf der Schwelle einer neu erbauten Hütte; er hatte weder Nase noch Ohren, und seine Augenhöhlen waren leer. Als Filipillo ihn ansprach, schien er ihn zu hören, doch antwortete er nicht.
    «Ich vermute, sie haben ihm auch die Zunge ausgerissen», sagte der Inka.
    Er berichtete mir, daß die Spanier hier Goldadern vermutet und daraufhin die Eingeborenen fürchterlich gemartert hätten, um die Fundorte zu erfahren; aber die Indianer hätten sich in unverbrüchliches Schweigen gehüllt.
    «Warum?» fragte ich.
    «Sie werden die Minen von Potosi sehen», antwortete mir der Inka. «Dann werden Sie verstehen, daß diese hier ihren Kindern ein gleiches Schicksal ersparen wollten.»
    Ich verstand sehr bald. Ein paar Tage später überholten wir einen Zug von Indianern, die zu den Minen geführt wurden; sie waren durch Halseisen, die man ihnen über den Kopf gezwängt hatte, aneinandergefesselt und auf der Wange mit einem eingebrannten G gezeichnet; es mochten vier- bis fünfhundert sein. Sie schritten schwankend dahin, wie erschöpft. Die Spanier schlossen sie von allen Seiten ein und trieben sie mit Peitschen an.
    «Sie kommen von Quito», erklärte mir mein Führer. «Und vielleicht waren sie mehr als 5000, als sie von dort aufgebrochen sind. Einmal sind 10   000 während des Zuges überdie glühenden Berge gestorben. Ein anderes Mal sind von 6000   Mann 200 angekommen. Wenn sie vor Müdigkeit auf der Straße liegen bleiben, macht man sie nicht einmal los: man schneidet ihnen einfach die Köpfe ab.»
    An diesem Abend sahen wir zum erstenmal in einem Dorf Rauch aus den Hütten steigen. Auf der Schwelle ihres Hauses sitzend, wiegte eine Indianerin ihr Kind und sang dabei; ihr Gesang klang so schwermutsvoll, daß ich die Worte wissen wollte. Mein Begleiter übersetzte sie so:
    Hat mich denn im Puckey-Puckey-Nest
    Meine Mutter in die Welt gesetzt,
    Daß ich leiden soll,
    Daß ich weinen muß wie jetzt
    Wie der Puckey-Puckey in seinem Nest?
    Er sagte mir, daß seit der Ankunft der Konquistadoren die Lieder, die die Mütter ihren Kindern sängen, immer so trostlos seien. Es gab nur Frauen und Kinder im Dorf; die Männer waren weggeholt

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