Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
man ihnen Löhne zahlte, daß man von ihnen nur mäßige Leistungen verlangte. Aber alle Leute, die ich darüber befragte, erklärten mir, die Anwendung dieser Gesetze sei schlechthin unmöglich; die einen behaupteten, die Indianer könnten nur als Sklaven glücklich sein; andere bewiesen an Hand von Zahlen, daß die Größe des Werkes, das wir zu vollbringen hätten, und die Trägheit der Indianer ein strenges Regime erforderten; und noch andere sagten mir, daß die Statthalter des Königs keine Macht besäßen, die Leute zum Gehorsam zu zwingen.
    «Wir haben beschlossen, den Siedlern, welche die Eingeborenen weiter als Sklaven behandeln, die Absolution zu verweigern», sagte mir Pater Mendonez. «Aber unsere Bischöfe haben uns mit dem Interdikt bedroht, wenn wir dabei beharren.»
    Er erlaubte mir, die Mission zu besuchen, wo man die alten, kranken Indianer pflegte und Waisenkinder aufzog. In einem von Palmen beschatteten Hof hockten Kinder um große Schüsseln mit Reis; es waren schöne Kinder mit dunkelbrauner Haut, vorspringenden Backenknochen, schwarzen, schlichten Haaren; sie hatten große, dunkle, leuchtende Augen; sie tauchten alle zusammen die kleinen braunen Hände in den Reis und führten sie alle gleichzeitig zum Mund. Es waren Kinder von Menschen und keine kleinen Tiere.
    «Sie sind schön», sagte ich.
    Der Pater legte die Hand auf den Kopf eines kleinen Mädchens.
    «Ihre Mutter war auch schön, und ihre Schönheit hat ihr das Leben gekostet: die Soldaten Pizarros haben sie mit zweien ihrer Gefährtinnen aufgehängt, um den Indianern zu beweisen, daß die Spanier für die Reize ihrer Frauen nicht empfänglich seien.»
    «Und dieser hier?» fragte ich.
    «Das ist der Sohn eines Häuptlings, der lebendig verbrannt worden ist, weil der Tribut seines Dorfes für ungenügend erachtet wurde.»
    Während wir langsam das Rasengeviert umschritten, rollte sich die Geschichte der Eroberung vor meinen Augen ab. Überall, wo die Leute Pizarros in das Land vorstießen, verlangten sie, daß jedes Dorf ihnen die Waren auslieferte, die die Bewohner in langen Jahren darin aufgehäuft hatten; diese Vorräte verbrauchten sie nicht, sondern sie verschleuderten und verbrannten sie, sie töteten die Herden, legten die Ernten in Asche und ließen hinter sich nichts als Wüste zurück, so daß die Eingeborenen zu Tausenden Hungers starben. Unter dem geringfügigsten Vorwand verbrannte man das ganze Dorf, und wenn die unglücklichen Bewohner aus den in Flammen stehenden Häusern flüchteten, erlegte man sie mit Pfeilen. Es gab ganze Städte, die beim Herannahen der Eroberer geschlossen Selbstmord begingen.
    «Wenn Sie immer noch den Wunsch haben, dies unglückliche Land zu bereisen, werde ich Ihnen einen Führer geben», sagte Pater Mendonez zu mir.
    Er wies auf einen großen, dunkelhäutigen jungen Mann, der an einen Baumstamm gelehnt vor sich hin zu träumen schien.
    «Das ist der Sohn eines Spaniers und einer Indianerin aus der Familie der Inkas. Wie es häufig vorkommt, hat sein Vater seine Mutter verlassen, um eine kastilische Dame zu ehelichen, und uns das Kind übergeben. Dieser junge Mann kennt die Geschichte seiner Vorfahren und ist mit der Gegend gut vertraut, er hat mich selber oft auf meinen Reisen begleitet.»
    Einige Tage später verließ ich die Stadt des Vizekönigs in der Begleitung von Filipillo, jenem jungen Inka. Der Vizekönig hatte mir kräftige Pferde und zehn indianische Trägerzur Verfügung gestellt. Dichter Nebel lag über der Küste und verbarg völlig die Sonne; der Boden war naß von Tau. Wir ritten eine Straße entlang, die sich an einem von herrlichem Wiesengrün bedeckten Hügel hinzog: es war eine lange Fahrstraße, mit steinernen Platten belegt, widerstandsfähiger und bequemer als irgendeine Straße der Alten Welt.
    «Die Inkas haben sie gebaut», erklärte mein Führer voller Stolz. «Das ganze Reich war von solchen Straßen durchzogen. Von Quito bis Cuzco eilten Kuriere dahin in einem schnelleren Tempo als heute Ihr Pferd und brachten allen Städten die Befehle des Kaisers.»
    Ich bewunderte dies gewaltige Werk. Um die Flüsse zu überqueren, hatten die Inkas steinerne Brücken erbaut; oft auch hatten sie über die Schluchten Hängebrücken geworfen, die aus Binsen geflochten und an Holzpflöcken befestigt waren.
    Tagelang ritten wir so dahin. Ich wunderte mich über die Kräfte unserer indianischen Träger; mit einer schweren Last an Lebensmitteln und Decken beladen, machten sie

Weitere Kostenlose Bücher