Alle Menschen sind sterblich
Entschluß stand fest. Am 25. Oktober 1555 berief er in den großen Saal des Palastes in Brüssel eine feierliche Versammlung, wo er, auf den Arm von Wilhelm von Oranien gestützt, in Trauerkleidern erschien. Der kaiserliche Rat Philibert von Brüssel las eine offizielle Erklärung des kaiserlichen Willens vor. Dann stand der Kaiser auf. Er erinnerte daran, wie er 40 Jahre früher in diesem gleichen Saal mündig erklärt worden sei; wie er seinem Großvater Ferdinand nachgefolgt sei und die Kaiserkrone erlangt habe; er hatte die Christenheit in einem Zustand der Zerrissenheit vorgefunden, seine Lande von feindlichen Nachbarn bedroht, gegen die er sich sein Leben lang habe verteidigen müssen; jetzt ließen seine Kräfte nach, er wollte die Niederlande an Philipp übergeben und das Reich an Ferdinand. Er ermahnte seinen Sohn, das Gesetz seiner Väter zu achten, den Frieden und das Recht. Er selber habe niemals mit Willen jemandem Unrecht getan.
«Sollte ich gegen meine Absicht doch jemandem Unbill zugefügt haben, so bitte ich ihn um Verzeihung», sagte er.
Als er diese Worte aussprach, war er sehr blaß geworden, und als er sich wieder setzte, rannen ihm die Tränen über die Wangen. Alle Anwesenden schluchzten laut. Philipp warf sich dem Vater zu Füßen. Karl zog ihn in seine Arme und küßte ihn zärtlich. Aber nur ich allein kannte den Grund seiner Tränen.
Am 16. Januar 1556 unterschrieb er in seinem Zimmer ein Schriftstück, durch das er zu Philipps Gunsten auf Kastilien, Aragonien, Sizilien und Westindien verzichtete. Zum erstenmal seit Jahren sah ich ihn an diesem Tag lachen und scherzen. Am Abend aß er ein Omelett mit Sardinen und eine große Aalpastete; nach der Mahlzeit hörte er eine Stunde lang einem Violinkonzert zu.
Im Herzen Spaniens hatte er sich eine Wohnung errichten lassen, nahe dem Kloster San Just, und er fragte mich:
«Wollen Sie mich begleiten?»
«Nein», antwortete ich.
«Was kann ich für Sie tun?»
«Sind wir nicht übereingekommen, daß man für niemanden etwas tun kann?»
Er blickte mir ernst ins Auge: «Ich werde zu Gott beten, daß er Ihnen eines Tages die Ruhe geben möge», sagte er.
Ich folgte ihm bis nach Vlissingen und blieb an der Reede stehen, um dem Schiff nachzublicken, das ihn von uns trug. Endlich verschwanden die Segel hinter dem Horizont.
«Ich bin müde», sagte Regine.
«Wir können uns setzen», schlug Fosca vor.
Sie waren lange gegangen und befanden sich tief im Wald. Feuchtwarme Dunkelheit herrschte unter dem Laubdach der Bäume. Regine hätte sich am liebsten in das Farnkraut gelegt, um einzuschlafen für immer.
Sie setzte sich und sagte: «Erzählen Sie nicht weiter; es hat keinen Zweck. Es wird ja doch bis zum Ende immer dieselbe Geschichte sein.»
«Dieselbe Geschichte und doch jeden Tag wieder anders», sagte Fosca. «Jetzt müssen Sie sie hören.»
«Eben noch wollten Sie sie überhaupt nicht erzählen.»
Fosca streckte sich auf dem Boden neben Regine aus; ein paar Minuten blickte er schweigend zu dem dunklen Laub der Kastanienbäume empor.
«Können Sie sich das alles vorstellen: das Segel, das am Horizont verschwindet, und mich selbst, wie ich dastehe und ihm bis zuletzt nachblicke?»
«Das kann ich», sagte sie.
Und es stimmte auch; sie konnte es jetzt.
«Wenn die Geschichte zu Ende ist, blicke ich Ihnen auch so nach. Sie wissen ganz genau, daß Sie mich verlassen müssen.»
Sie verbarg das Gesicht in den Händen: «Ich weiß nicht. Ich weiß nichts mehr», sagte sie.
«Aber ich weiß es; darum will ich reden, solange ich noch reden kann.»
«Und was kommt dann?» sagte sie.
«Denken wir nicht an das ‹Dann›. Ich spreche, und Sie hören zu. So lange tauchen zwischen uns keine Fragen auf.»
«Gut. Erzählen Sie weiter», sagte sie.
Dritter Teil
Ich ging immer geradeaus, quer durch das Moor, das sich endlos hinzog, so weit man sehen konnte; der schwammige Boden gab unter meinen Füßen nach, und aus den Binsen traten glucksend Wassertropfen hervor; die Sonne neigte sich zum Horizont; hinter den Meeren und Ebenen und jenseits der Gebirge war immer wieder ein Horizont, und jeden Abend wieder ging die Sonne zur Neige. Es war jetzt Jahre her, seit ich meinen Kompaß fortgeworfen hatte und durch diese einförmige Landschaft irrte, ohne Gefühl für die Jahreszeit oder die Stunde des Tages; meine Vergangenheit hatte ich vergessen; meine Zukunft aber war diese endlose Ebene, die bis an den Himmel reichte. Ich prüfte die
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