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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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gleichwohl fünfzehn Meilen am Tag. Bald erfuhr ich, daß sie ihre Stärke einer Pflanze verdankten, deren grüne Blätter sie unablässig kauten und die Kola hieß. Wenn sie an der letzten Etappe angekommen waren, warfen sie ihre Traglast ab und streckten sich der Länge nach auf dem Boden aus, von Ermüdung übermannt; kurz darauf jedoch kauten sie wieder ein aus den Blättern gedrehtes Kügelchen und waren frisch wie zuvor.
    «Das ist Pachacumac», sagte Filipillo. Ich brachte mein Pferd zum Stehen und wiederholte: «Pachacumac!»
    Der Klang des Namens erweckte in mir die Vorstellung von einer Stadt voll skulpturengeschmückter Paläste und Häusern aus Zedernholz, mit Gärten voll duftender Pflanzen, großen Treppen, die sich bis ins Meer hinabsenkten, mitBassins voller Fische und Wasservögel, die Palastterrassen mit Bäumen aus purem Gold bepflanzt, mit Blumen, Früchten und goldenen Vögeln beladen. Pachacumac! Ich riß die Augen auf.
    «Aber ich sehe nichts», sagte ich.
    «Es gibt auch nichts mehr zu sehen», gab der Inka zur Antwort.
    Wir kamen näher heran; ein terrassenförmig angelegter Hügel trug ein Bauwerk, von dem nichts mehr stand als eine rote Mauerecke; diese Mauer war aus riesigen, ohne Zement übereinandergetürmten Felsblöcken gebaut. Ich sah meinen Führer an; im Sattel hoch aufgerichtet, mit erhobenem Haupt, starrte er blicklos ins Leere.
    Am folgenden Tag verließen wir die Küste und begannen den Abhang des Berges zu ersteigen; allmählich gelangten wir über den Nebel hinaus, der auf dem Gestade lastete; die Luft wurde trockener, die Vegetation üppiger; von weitem schien es, als seien die Hügel mit goldenem Kies bedeckt; beim Näherkommen entdeckte man unendliche Felder von Sonnenblumen und von Margueriten mit goldgelbem Stern; auf den Wiesen wuchsen hohe, schlanke Gräser und blauschimmernde Kakteen; obwohl der Weg erheblich anstieg, blieb die Temperatur sich gleich. Wir kamen durch mehrere verlassene Dörfer; die Häuser aus Luftziegeln standen unversehrt da, aber die Pflanzen hatten sie allseitig überzogen. Mein Führer sagte mir, beim Herannahen der Spanier seien die Bewohner unter Mitnahme aller ihrer Schätze über die Anden geflohen; niemand wußte, was aus ihnen geworden war.
    Früher webte man im geringsten dieser Dörfer aus Agaven-, Baumwoll- und bunten Lamawollfäden Stoffe; man fertigte rotgrundige Töpferwaren an, mit menschlichen Gesichtern und geometrischen Figuren verziert. Jetzt war alles tot.
    Voller Ungeduld stellte ich dem jungen Inka immer neue Fragen, und während wir das ungeheure, mehr als 8000   Fuß über dem Meer gelegene Hochplateau überquerten, auf dem nur blaue Kakteen wuchsen, erfuhr ich, was er noch wußte von dem Reich seiner Väter. Die Inkas wußten nichts von Privateigentum; gemeinsam besaßen sie das Land, das jedes Jahr neu aufgeteilt wurde, wobei ein Gemeinschaftsgrund für den Unterhalt der Beamten und für die Vorrathaltung im Falle von Hungerjahren vorgesehen war; man nannte ihn: «Land des Inkas und der Sonne»; an gewissen Tagen bestellte jeder Inka dies Feld und ebenso die Äcker der Kranken, der Witwen und der Waisen; sie arbeiteten mit Lust und Liebe und luden sich Freunde und ganze Dörfer ein, um ihren Landanteil zu bestellen: die Eingeladenen eilten freudig wie zu einer Hochzeit herbei. Alle zwei Jahre wurde Wolle verteilt, und in den heißen Landstrichen bekamen alle von der königlichen Baumwollernte ihr Teil: jeder machte in seinem Hause selbst, was er brauchte: er war Maurer und Schmied und der Herr seines Ackers. Es gab keine Armen unter ihnen. Ich hörte Filipillo zu und dachte dabei: das also ist das Reich, das wir zerstört haben, das Reich, das ich auf Erden errichten wollte und nicht zu errichten vermochte.
    «Cuzco!» sagte der Inka.
    Wir waren auf der Höhe eines Passes angekommen und erblickten unter uns eine grüne Ebene, die mit Dörfern besät war: das lächelnde Tal des Vulcanida; weiter hinten erhob sich der weiße Kegel des Azuyata und die schneebedeckte Kette der Anden. Die Stadt erstreckte sich am Fuße eines ruinengekrönten Hügels; ich gab meinem Pferd die Sporen und sprengte auf die alte Inka-Hauptstadt zu.
    Wir kamen durch mit Luzernen, Gerste und Mais bestandene Felder und Kolagärten; die Ebene war von Kanälen durchzogen, die die Inkas geschaffen hatten; die Hügel waren in Terrassen gestuft, um Erdrutsche zu verhindern.Diese Straßen- und Städtebauer waren auch geschicktere Landwirte gewesen als

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