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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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herüber, und rote Funken flogen durch die schwarze Luft. Sie verbrennen das Dornengestrüpp an der Flanke des Hügels, das reicht kaum für zwei Tage, dachte ich.
    Das Geräusch von Schritten und das Klirren von Stahl bewog mich, den Kopf zu heben. Sie zogen im Gänsemarsch hinter dem Wachtposten her, der eine Fackel trug; man hatte ihnen die Hände hinter dem Rücken gefesselt: die Wache schritt an mir vorbei, dann kam eine Frau mit vollen roten Wangen, eine Alte, dann eine Junge, die auf den Boden blickte und deren Gesicht ich nicht sah, dann eine andere, die hübsch zu sein schien; endlich ein bärtiger Greis, und dann noch ein anderer Alter; sie hatten sich verborgen, um nicht sterben zu müssen, und nun mußten sie sterben.
    «Wohin führt ihr sie?»
    «Nach dem Westwall. Das ist die Seite, die am steilsten abfällt.»
    «Viele sind es nicht.»
    «Alle, die wir gefunden haben», gab die Wache zurück. Er drehte sich nach den Gefangenen um. «Vorwärts, weiter», brummte er.
    «Fosca», rief einer der Männer mit durchdringender Stimme. «Ich muß mit dir reden, laß mich nicht zugrunde gehen.»
    Ich erkannte ihn; es war Bartolomeo, der älteste und elendste der Bettler, die unter der Pforte der Kathedrale ihre Hand ausgestreckt hatten.
    Die Wache gab ihm einen leichten Schlag. «Vorwärts.»
    «Ich kenne das Mittel», rief der Greis. «Ich muß mit dir reden, Fosca.»
    «Das Mittel?»
    Ich trat näher zu ihm, während die anderen in der Nacht verschwanden.
    «Welches Mittel meinst du?»
    «Das Elixier. Es ist in meinem Hause versteckt.»
    Lange sah ich den Bettler an; sicher belog er mich. Seine Lippen zitterten, und trotz des eisigen Windes standen ihm die Schweißtropfen auf der vergilbten Stirn. Er war mehr als achtzig Jahre alt und kämpfte noch um sein Leben.
    «Du lügst», sagte ich.
    «Ich schwöre auf die Heilige Schrift, daß ich die Wahrheit sage. Der Vater meines Vaters hat es aus Ägypten gebracht. Wenn ich gelogen habe, magst du mich morgen töten.»
    Ich wendete mich zu Ruggiero um.
    «Man soll mir diesen Mann mit seiner Medizin in den Palast hinaufbringen.»
    Ich beugte mich über die Zinnen und warf einen letzten Blick auf die hoffnungslosen Feuer, deren Flammen züngelten in der Nacht. Ein furchtbarer Schrei zerriß die Stille; er kam vom Westwall her.
    «Gehen wir ins Haus», sagte ich.
    Caterina saß in der Ecke am Kamin in eine Decke gehüllt; sie nähte beim Schein einer Fackel. Als ich in das Zimmer trat, hob sie die Augen nicht.
    «Vater», sagte Tankred, «Kunak rührt sich nicht mehr.»
    «Er schläft», sagte ich. «Laß ihn schlafen.»
    Ich beugte mich und berührte das alte, welke Fell.
    «Er ist tot», sagte ich.
    «Er ist tot», sprach Tankred mir nach.
    Sein rosiges Gesicht verzog sich; die Tränen kamen ihm.
    «Komm, weine nicht», sagte ich. «Sei ein Mann.»
    «Er ist für immer tot», sagte er.
    Er weinte heftiger. Dreißig Jahre der Vorsicht, dreißig Jahre der Furcht, und eines Tages werde auch ich ebenso ausgestrecktliegen und über nichts mehr befinden; in dieser schwachen Hand wird dann Carmonas Schicksal ruhen. Ach! wie kurz ist das Leben, auch das längste noch! Wozu Gegengifte, Spione und Panzerhemden? Und all dies Morden, wozu?
    Ich nahm neben Caterina Platz; sie besserte ein Gewebe aus, ihre Finger waren mit Frostbeulen übersät.
    «Caterina», rief ich sie leise an.
    Sie wendete mir ihr Gesicht zu, das wie tot erschien.
    «Caterina, mich tadeln ist leicht. Versuche dich an meine Stelle zu versetzen.»
    «Gott bewahre mich davor, sie jemals einzunehmen», sagte sie. Sich über ihre Arbeit beugend, fuhr sie fort: «Heute nacht wird es frieren.»
    «Ja.»
    Ich blickte auf die fahlen, zögernden Schatten, die auf den Wandteppichen leise zu schwanken schienen, und fühlte mich plötzlich sehr müde.
    «Kinder!» sagte sie. «Mit einem ganzen Leben vor sich.»
    «Ach! So sei doch still.»
    Ich dachte: Sie werden alle sterben, doch Carmona wird gerettet sein. Und dann werde ich sterben, und die gerettete Stadt wird in die Hände der Florentiner oder der Mailänder fallen. Ich werde Carmona gerettet haben, und doch wird nichts getan sein.
    «Raimondo, laß sie wieder in die Stadt hinein.»
    «Dann sterben wir alle», sagte ich.
    Sie senkte den Kopf. Sie führte die Nadel durch das Zeug mit dicken roten Fingern. Ich hätte am liebsten meinen Kopf an ihre Knie gelegt, ihre Beine gestreichelt und ihr zugelächelt. Aber ich hatte das Lächeln verlernt.
    «Die Belagerung»,

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