Alle Menschen sind sterblich
hatten den jungen Mann losgelassen, er stand jetzt unbeweglich unter den Fenstern des Palastes; er hob den Kopf und schrie: «Nieder mit dem Tyrannen!» Niemand rührte sich. Die Glocken der Kathedrale fingen zu läuten an: es war das Sterbegeläute. Caterina wandte sich zu mir um.
«Einer von ihnen bringt dich um», stieß sie heftig hervor.
«Ich weiß», sagte ich.
Ich lehnte meine Stirn gegen die Fensterscheibe. «Sie werden mich erschlagen.» Ich fühlte an meiner Brust die Kälte des Panzerhemdes. Alle hatten sie solch Panzerhemd getragen, und keiner von ihnen hatte mehr als fünf Jahre regiert. Dort oben auf dem eisigen Speicher forschten zwei Ärzte seit Monaten zwischen ihren Retorten und Filtern, aber sie fanden nichts. Ich wußte, sie würden nie etwas finden. Ich war zum Tode verdammt.
«Caterina», sagte ich, «schwöre mir, daß du, wenn ich sterbe, die Stadt nicht übergeben wirst.»
«Nein», sagte sie. «Ich schwöre es nicht.»
Ich trat an den Kamin. Tankred lag auf dem Teppich vor dem dürftigen Feuer aus ein paar Fichtenreisern; er spielte mit seinem Hund. Ich nahm ihn auf den Arm; er war rosig und blond, er sah seiner Mutter ähnlich; er war ein sehr kleines Kind. Ich setzte ihn auf den Boden, ohne etwas zu sagen. Ich war ganz allein.
«Vater», sagte Tankred. «Ich fürchte, Kunak ist krank. Er sieht so traurig aus.»
«Der arme Kunak», sagte ich. «Er ist eben schon alt.»
«Wenn Kunak stirbt, schenkst du mir dann einen anderen Hund?»
«Es gibt keinen einzigen Hund mehr in ganz Carmona», sagte ich.
Ich trat wieder an das Fenster. Die Totenglocke läutete, und die schwarze Menge setzte sich in Bewegung. Ohne ein Wort, ohne eine Gebärde sahen die Männer mit an, wie ihre Väter und Mütter, ihre Frauen und Kinder an ihnen vorüberzogen. Die in ihr Schicksal ergebene Schar schritt langsam zu den Wällen hinab.
Solange ich bei ihnen bin, werden sie nicht schwach, dachte ich.
Eine große Kälte stahl sich in mein Herz. Werde ich lange genug bei ihnen sein.
«Das Amt kann beginnen», sagte ich.
«Ach, jetzt werdet ihr für sie beten», sagte Caterina. «Die Männer gehen beten, während die Genueser ihre Frauen schänden.»
«Ich tue, was ich tun muß», sagte ich. Ich trat näher zu ihr. «Caterina …»
«Rühre mich nicht an», sagte sie.
Ich gab Giovanni und Ruggiero ein Zeichen.
«Gehen wir.»
Der Dom erstrahlte am Ende der größten Straße, weiß, rot, grün und golden wie ein Friedensmorgen. Die Glocken erklangen im Sterbegeläut, und in ihren düsteren Kleidern stiegen die Männer schweigend die Kirchenstufen empor; ihre Gesichter waren stumm; sie blickten mich mit Augen ohne Furcht und Hoffnung an. Im Wind kreischten die rostigen Handwerkszeichen vor den geschlossenen Läden. Kein Gras wuchs mehr zwischen den Steinen, keine Nessel am Mauerrand. Ich schritt die Marmorstufen hinauf und wendete mich um.
Am Fuße des struppigen Felsens, auf dem Carmona stand, wuchsen Olivenbäume; zwischen ihrem silbrigen Grau sah man die roten Zelte der Genueser schimmern. Eine schwarze Menschensäule ergoß sich aus der Stadt und bewegte sich den Hügel hinunter auf das Heerlager zu.
«Meint Ihr, daß die von Genua sie aufnehmen?» fragte Giovanni.
«Nein», antwortete ich.
Ich schritt durch die Tür der Kirche, und das Klirren der Waffen mischte sich unter die Trauergesänge, die von den steinernen Wölbungen zurückgeworfen wurden. Wenn Leonardo Vezzani zwischen Blumen und Scharlachtüchern einherzog, war keine Wache um ihn, und er lächelte; er hattenicht an den Tod gedacht, aber nun war er tot, von seinen Feinden erwürgt. Ich kniete, alle ruhten schon unter den Fliesen des Chores: Franz Rienzi: vergiftet; Bertram Rienzi: ermordet; Pietro degli Abruzzi: getötet durch einen Lanzenstich; Orlando Rienzi, Leonardo Vezzani, Goffredo Massigli und auch Gaetan d’Agnolo, der betagt im Exil verstorben war … Neben ihnen war noch Platz. Ich neigte schweigend das Haupt. Wie lange noch?
Auf den Stufen des Altars kniend, betete der Priester mit gedämpfter Stimme, und ernste Stimmen stiegen zu der Wölbung auf. Ich preßte meine behandschuhten Hände gegen meine Stirn. Ein Jahr? Einen Monat noch? Meine Leibwachen folgten mir, doch hinter ihnen war Leere: nur Menschen, schwache Wesen, Verräter zwischen der Leere und mir. Von hinten wird es kommen … Stärker preßten die Hände; ich durfte den Kopf nicht wenden; die Leute sollten nicht wissen. MISERERE NOBIS … Ebenso
Weitere Kostenlose Bücher