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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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sagte sie, «hat schon lange gedauert. Die Genueser sind müde; kann man denn nicht versuchen, mit ihnen zu unterhandeln?»
    Ich fühlte in der Brust einen dumpfen Schlag.
    «Du denkst wirklich so?» fragte ich.
    «Ja.»
    «Du willst, daß ich den Genuesern unsere Tore öffne?»
    «Ja.»
    Ich strich mir über die Stirn. Sie dachten alle so, ich wußte es. Für wen denn schlug ich mich eigentlich? War es Carmona? Ein Haufen gleichgültiger Steine, und Menschen, die sich vor dem Tode fürchteten. In ihnen wie in mir lebte die gleiche Angst. Wenn ich den Genuesern Carmona ausliefere, werden sie uns vielleicht schonen, und wir können noch ein paar Jahre leben. Ein Lebensjahr, eine Lebensnacht: wegen einer Nacht flehte der alte Bettler mich an. Eine Nacht – ein Leben. Kinder mit einem ganzen Leben vor sich   … Ich hatte auf einmal Lust, das Ganze fahrenzulassen.
    «Euer Gnaden», sagte Ruggiero, «hier ist der Mann mit dem Elixier.»
    Er hielt Bartolomeo an der Schulter fest und reichte mir eine staubige Flasche, in der eine grünliche Flüssigkeit war. Ich blickte den Bettler an: sein runzliges Gesicht, seinen schmutzigen Bart, seine entzündeten Augen. Wenn ich dem Gift, dem Stahl und der Krankheit entgehe, werde ich sein wie er.
    «Was ist das für ein Trank?» fragte ich.
    «Ich möchte allein mit dir reden», sagte Bartolomeo.
    Ich gab Ruggiero einen Wink. «Laß uns allein.»
    Caterina wollte sich auch erheben, aber ich legte die Hand auf ihr Handgelenk.
    «Vor dir habe ich kein Geheimnis. – Sprich!» sagte ich zu dem Alten.
    Er sah mich merkwürdig lächelnd an.
    «In dieser Flasche ist», sagte er, «der Trank, der unsterblich macht.»
    «Sieh da, und sonst nichts!» rief ich aus.
    «Glaubst du mir etwa nicht?»
    Ich mußte nun meinerseits lächeln über die plumpe List.
    «Aber wenn du unsterblich bist, warum hast du dann Angst, in den Graben gestürzt zu werden?»
    «Ich bin nicht unsterblich», sagte der Greis. «Die Flasche ist noch voll.»
    «Und warum hast du nicht davon getrunken?» fragte ich.
    «Und du? Würdest du es wagen?»
    Ich hielt die Flasche gegen das Licht; die Flüssigkeit war trübe.
    «Trinke du zuerst.»
    Er schüttelte den Kopf. «Ist irgendein kleines Tier hier im Palast noch am Leben?»
    «Tankred hat eine weiße Maus.»
    «Laß sie holen», sagte der Greis.
    «Raimondo», sagte Caterina, «er hängt so sehr an dieser Maus.»
    «Geh und hole sie», sagte ich. Sie stand auf und ging.
    «Der Trank, der unsterblich macht!» sagte ich wieder in spottendem Ton. «Warum bist du so spät auf den Gedanken gekommen, ihn mir anzubieten? Du hättest sicher nie mehr zu betteln nötig gehabt.»
    Bartolomeo fuhr mit dem Finger über den Flaschenhals. «Dieser verwünschten Flasche verdanke ich, daß ich ein Bettler bin.»
    «Wieso das?»
    «Mein Vater war ein weiser Mann. Er hat die Flasche auf seinem Speicher versteckt und sie dann vergessen. Sterbend hat er mir sein Geheimnis enthüllt, aber er hat mir geraten, es gleichfalls zu vergessen. Ich war zwanzig Jahre alt und erhielt als Geschenk die Gabe der ewigen Jugend: wozu mir da Sorgen machen? Ich habe den Laden meines Vaters verkauft und sein Vermögen verpraßt. Jeden Tag sagte ich mir: morgen werde ich trinken.»
    «Und du tatest es nicht?»
    «Die Armut ist gekommen; und ich wagte es nicht. Das Alter ist gekommen, und damit viele Beschwerden. Ich sagte mir: ich werde trinken in dem Augenblick, wo ich sterben muß. Aber eben jetzt, als mich deine Leute in der Hütte ergriffen, in der ich mich verborgen hielt, habe ich nicht getrunken.»
    «Noch ist es Zeit», sagte ich.
    Er schüttelte den Kopf. «Ich fürchte mich vor dem Tode; aber in Ewigkeit leben, wie furchtbar lange ist das!»
    Caterina stellte einen kleinen Holzkäfig auf den Tisch und nahm schweigend ihren Platz wieder ein.
    «Jetzt sieh gut her», sagte der Greis. Er öffnete die Flasche, goß ein paar Tropfen des Inhalts in die hohle Hand und ergriff die Maus. Sie stieß einen kurzen Pfiff aus und tauchte dann ihr Schnäuzchen in die grünliche Flüssigkeit.
    «Das ist doch Gift», sagte ich.
    Die Maus lag in der Hand des Alten, schlaff, wie vom Blitz getroffen. «Warte mal ab.»
    Wir warteten. Plötzlich begann der kleine, unbewegliche Körper sich wieder zu rühren.
    «Sie war eingeschlafen», sagte ich.
    «Jetzt», sagte Bartolomeo, «drehe ihr den Hals um.»
    «Nein», sagte Caterina.
    Er gab mir die Maus in die Hand. Sie war warm und lebendig.
    «Drehe ihr den Hals um.»
    Ich

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