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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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meine Leute mit dem Ruf: «Nieder mit Genua» durch die Stadt zerstreut, und die Bürger, denen ich vorher ein Zeichen gegeben hatte, besetzten den herzoglichen Palast. Am Abend dieses Tages war ich Fürst von Carmona.
    Ich stattete alle Männer mit Waffen aus; die Bauern verließen die Ebene und verschanzten sich mit ihrem Getreide und Vieh hinter unseren Wällen; ich schickte Boten zu dem Condottiere Carlo Malatesta und bat ihn um seine Hilfe. Ich sperrte Carmonas Tore zu.
     
    «Laß sie nach Hause», sagte Caterina. «Um der Liebe Gottes willen und aus Liebe zu mir, zum Heil deines Kindes schicke sie nach Hause zurück.»
    Sie fiel vor mir auf die Knie, und Tränen rannen über ihre Wangen hin, auf denen rote Flecke standen. Ich legte ihr die Hand aufs Haupt. Ihr Haar war brüchig und glanzlos, ihre Augen hatten keine Farbe, und ihr Körper war mager und grau unter dem Barchentkleid.
    «Caterina, du weißt, unsere Speicher sind leer!»
    «Das kann nicht erlaubt, das kann nicht möglich sein», sagte sie verstört.
    Ich wendete den Kopf. Durch das halboffene Fenster drang die Kälte der Straßen und eisiges Schweigen in den Palast. Schweigend zog die schwarze Schar durch die Hauptstraße unserer Stadt, und die Männer, die auf den Schwellen ihrer Häuser standen und aus den Fenstern sahen, blickten schweigend darauf herab. Man hörte nur fügsames Schreiten und Klirren von Pferdehufen.
    «Laß sie nach Hause», sagte sie.
    Ich blickte auf Giovanni und Ruggiero hin.
    «Gibt es ein anderes Mittel?»
    «Nein», sagte Giovanni.
    Ruggiero schüttelte den Kopf. «Nein.»
    «Warum jagt man mich denn dann nicht auch hinaus?» fragte Caterina.
    «Du bist mein Weib», sagte ich.
    «Ich bin ein unnützer Esser. Mein Platz ist bei den andern. Ach, bin ich feige!» sagte sie. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. «Mein Gott! Verzeihe uns. Mein Gott! Verzeihe uns!»
    Sie stiegen von der Burg herab, sie kamen aus den Straßen der Unterstadt herauf. Eine kalte Sonne vergoldete die Masse rosiger Ziegeldächer, durch die sich schmale schwarze Schluchten zogen. Durch jede dieser Schluchten marschierten sie in kleinen Gruppen, von Berittenen angeführt.
    «Mein Gott! Vergib uns, was wir tun. Mein Gott! Verzeihe uns.»
    «Hör mit den Litaneien auf», sagte ich. «Ich weiß, daß Gott uns schützt.»
    Caterina erhob sich und trat an das Fenster heran. «All diese Männer!» sagte sie. «Sie sehen zu, und sie schweigen!»
    «Sie wollen Carmona retten», sagte ich. «Sie lieben ihre Stadt.»
    «Wissen sie nicht, was die Genueser mit ihren Frauen tun werden?»
    Der Zug trat jetzt auf die Piazza hinaus: Frauen, Kinder, Greise und Gebrechliche; sie kamen von der Höhe und aus der tiefer gelegenen Stadt; sie trugen Bündel in der Hand; noch hegten sie eine Hoffnung; es waren Frauen dabei, die tief gebeugt gingen unter der Last, die sie mit sich schleppten, als ob jenseits der Mauern ihnen noch Decken und Töpfe und die Erinnerungen ihres Glücks würden helfen können. Die Wachen hatten ihre Pferde zum Stehen gebracht, und jenseits dieser Schranke füllte sich das große rosigeBecken langsam mit einer stummen schwarzen Menge an.
    «Raimondo, schick sie nach Hause zurück», sagte Caterina. «Die Genueser lassen sie sicher nicht ein. Sie werden alle in den Gräben vor Hunger und Kälte sterben.»
    «Was haben die Soldaten», fragte ich, «heute morgen bekommen?»
    «Einen Brei aus Kleie und eine Suppe aus Gras», antwortete Ruggiero.
    «Und heute fängt der Winter an! Kann ich mich da denn noch um Frauen und Greise kümmern?»
    Ich blickte zum Fenster hinaus. «Maria, Maria!» Ein Schrei zerriß die Stille. Es war ein junger Mann, der schrie; er rannte über den Platz, kroch unter den Leibern der Pferde durch und teilte die Menschenmenge. «Maria!» Zwei Soldaten ergriffen ihn und schleuderten ihn auf die andere Seite der Sperre zurück. Er schlug verzweifelt um sich.
    «Raimondo!» schrie Caterina auf. «Raimondo, es ist besser, die Stadt zu übergeben.»
    Sie krampfte beide Hände um das Fenstergitter; sie war am Zusammenbrechen, wie unter einer zu schweren Last.
    «Du weißt, was sie mit Pisa gemacht haben?» sagte ich. «Die Mauern niedergelegt, die Männer als Sklaven fortgeführt. Besser, man trennt sich von einem Arm, als daß man vollends stirbt.»
    Ich sah die hohen Türme aus weißen Steinen an, die sich voller Stolz über die Dächer erhoben. «Sie können niemals Carmona nehmen, wenn wir es nicht übergeben.»
    Die Soldaten

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