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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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einförmig werden einst die Gebete abrollen, und genau an diesem Platz wird sich der schwarze, mit Silbertränen besäte Katafalk erheben. Und dieser Kampf dreier Jahre wird vergebens sein. Wende ich jetzt den Kopf, so halten sie mich für feige; ich bin kein Feigling, aber ich will nicht sterben, ohne etwas erreicht zu haben.
    «Mein Gott!» sagte ich. «Laß mich leben!»
    Das Murmeln der Gebete schwoll flutartig an und ab; stiegen sie empor zu Gott? Stimmte es, daß auf die Toten im Himmel ein neues Leben wartete? Ich dachte: Ich werde keine Hand und keine Stimme mehr haben; ich werde sehen, wie Carmona seine Tore öffnet, wie die Genueser unsere Türme schleifen, und werde ohnmächtig sein. Ach! ich wünsche mir, daß die Priester die Unwahrheit sagen; ich möchte endgültig tot sein!
    Die Stimmen schwiegen. Eine Hellebarde pochte auf die Fliesen, ich verließ die Kirche; draußen blendete mich dieHelle einen Augenblick. Ich stand unbeweglich oben auf der Treppe. Kein Siecher bettelte hier, kein Kind spielte auf den Stufen. In ungebrochener Glätte strahlte der Marmor im Sonnenschein. Der Abhang des Hügels lag jetzt verlassen da; um die roten Zelte her sah man ein wirres Gewimmel. Ich wandte die Augen ab. Was in der Ebene vorging, was sich im Himmel zutrug, das alles betraf mich nicht. Frauen und Kinder hatten freilich Grund, sich zu fragen: Was machen sie? Halten sie noch stand? Wird Carlo Malatesta bis zum Frühling hier sein? Wird uns Gott erretten? Ich erwartete nichts. Ich hielt die Tore Carmonas geschlossen und erwartete nichts.
    Langsam stieg ich wieder zum Palast empor. Schweres Schweigen lag lastend wie ein Fluch auf der Stadt, und ich dachte: ich bin da und werde nicht da sein, ich werde nirgends sein; es wird von hinten kommen, und ich werde nicht einmal wissen, daß es gekommen ist. Dann dachte ich mit Inbrunst: Nein, es ist ausgeschlossen; mir wird das nicht geschehen. Ich wendete mich zu Ruggiero: «Ich gehe auf den Speicher hinauf», sagte ich zu ihm.
    Ich stieg die gewundene Treppe empor, nahm einen Schlüssel vom Gürtel und schloß die Tür auf. Ein fader, abgestandener Geruch packte mich an der Kehle. Der Boden war mit vertrockneten Kräutern bedeckt; Tiegel und Retorten kochten in einem Ofen inmitten von dichtem Dampf, Petrucchio stand über den mit Phiolen und Gläsern bedeckten Tisch gebeugt und rührte in einem Mörser eine gelbe Paste.
    «Wo sind die anderen?»
    Petrucchio hob den Kopf: «Sie schlafen.»
    «Zu dieser Stunde schlafen sie?»
    Mit dem Fuß stieß ich die halbgeöffnete Tür vollends auf. Die acht Ärzte lagen auf den Lagerstätten, die man für sie hingestellt hatte, nebeneinander an der Wand. Die einenschliefen, die anderen blickten in sich gekehrt zu den großen Deckenbalken empor. Ich schloß wieder die Tür.
    «Sie strengen sich zu sehr an! Sie werden an dieser Aufgabe noch zugrunde gehen!»
    Ich schaute Petrucchio über die Schulter. «Ist das ein Gegengift?»
    «Nein. Ein Frostbalsam.»
    Ich nahm den Mörser in die Hand und warf ihn heftig zu Boden.
    Petrucchio blickte mich eiskalt an. «Und doch versuche ich, nützliche Arbeit zu machen.» Er bückte sich und hob den schweren Marmormörser wieder auf.
    Ich trat zu dem Ofen hin.
    «Ich bin sicher, daß man es finden kann», sagte ich. «Es gibt von jeder Sache auch ein Gegenteil; wenn es Gifte gibt, gibt es ein Gegengift.»
    «Möglich, daß man es in tausend Jahren entdeckt.»
    «Es existiert doch! Warum sollte man es nicht auf der Stelle entdecken?»
    Petrucchio zuckte die Achseln.
    «Ich brauche es sofort», sagte ich.
    Ich sah mich um. Das Mittel war da, verborgen in diesen Kräutern, in den roten und blauen Pulvern, und ich war nicht fähig, es herauszuerkennen. Wie ein Blinder stand ich vor diesen Gläsern und Phiolen in allen Regenbogenfarben, und auch Petrucchio war blind. Das Mittel war da, und niemand auf der Welt vermochte es zu sehen.
    «O mein Gott!» rief ich aus.
    Die Tür fiel hinter mir krachend ins Schloß.
     
    Der Wind schnob durch den Wachgang. Ich lehnte mich an die steinerne Brustwehr und sah den knisternden Flammen zu, die aus den Gräben stiegen. Weiter hinten sah man die Lichter des Lagers der Genueser. Und weiter dahinter imDunkeln lag die Ebene mit den verödeten Straßen, den verlassenen Häusern, unendlich und ungenutzt wie das weite Meer. Carmona stand allein, auf seinem Felsen verloren, wie eine kleine Insel im Meer. Ab und zu trug ein Windstoß den Geruch von verbranntem Gestrüpp

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