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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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preßte die Hand mit Macht zusammen. Die kleinen Knochen krachten. Ich warf den Leichnam auf den Tisch.
    «Da.»
    «Sieh nur hin», sagte Bartolomeo. «Sieh nur richtig hin.»
    Einen Augenblick lang lag die Maus regungslos auf der Seite. Dann erhob sie sich und trottete munter über den Tisch.
    «Sie war tot», sagte ich.
    «Sie wird nie mehr sterben.»
    «Raimondo», sagte Caterina, «jage diesen Mann fort, er ist ein Zauberer.»
    Ich packte den Greis an der Schulter. «Muß man die ganze Flasche austrinken?»
    «Ja.»
    «Werde ich älter werden?»
    «Nein.»
    «Jage ihn doch fort», sagte Caterina.
    Mißtrauisch sah ich den Alten an. «Du weißt, was auf dich wartet, wenn du mich angelogen hast?»
    Er neigte bejahend den Kopf: «Doch wenn ich nicht gelogen habe, läßt du mich am Leben?»
    «Dann ist dein Glück gemacht», sagte ich. «Ruggiero!» rief ich dann.
    «Herr?»
    «Behalte den Mann im Auge.»
    Die Tür ging wieder zu, und ich trat an den Tisch. Ich streckte die Hand nach der Flasche aus.
    «Raimondo, du wirst doch nicht trinken!» rief Caterina aus.
    «Er lügt nicht», sagte ich. «Warum sollte er lügen?»
    «Ach, gerade deshalb!» sagte sie.
    Ich schaute sie an, meine Hand fiel herab.
    «Als Christus jenen Juden strafen wollte», stieß sie leidenschaftlich hervor, «der ihm ins Gesicht gelacht hatte, da verdammte er ihn dazu, immer und ewig zu leben.»
    Ich antwortete ihr nicht. Ich dachte nur bei mir: Was könnte ich alles tun! und ergriff die Flasche. Caterina bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
    «Caterina.»
    Ich blickte um mich. Niemals mehr würde ich diesen Raum mit den gleichen Augen ansehen.
    «Caterina, wenn ich sterbe, öffne die Tore der Stadt.»
    «Trinke nicht», sagte sie.
    «Wenn ich sterbe, kannst du tun, was du willst.»
    Ich setzte die Flasche an den Mund.
     
    Als ich die Augen aufschlug, war draußen heller Tag und das Zimmer voll Menschen.
    «Was ist?»
    Ich richtete mich auf einem Ellbogen auf; der Kopf war mir merkwürdig schwer. Caterina, die am Kopfende stand, sah mich an wie erstarrt.
    «Aber was ist denn los?»
    «Jetzt sind es vier Tage, daß Ihr auf diesem Lager ruht, steif und kalt wie ein Toter», sagte Ruggiero da.
    Auch er schien von Grauen gepackt.
    «Vier Tage!» Ich sprang auf. «Wo ist Bartolomeo?»
    «Hier bin ich.»
    Der Alte sah mich haßerfüllt an.
    «Einen schönen Schrecken hast du mir eingejagt», sagte er.
    Ich packte ihn an der Hand und zog ihn in die Nähe der Tür. «Ist es geschehen?»
    «Aber ja.»
    «Ich werde niemals sterben?»
    «Nein. Selbst nicht, wenn du willst.» Er lachte und spreizte die Finger. «Mein Gott, wie lange», sagte er. «So eine lange, lange Zeit!»
    Ich fuhr mir mit der Hand an die Kehle; mir war, als erstickte ich.
    «Meinen Mantel, schnell.»
    «Ihr wollt ausgehen?» fragte Giovanni. «Ich werde die Wache rufen.»
    «Nein, ich will keine Wache.»
    «Das würde unklug sein. Die Stadt ist nicht eben ruhig.»Er blickte scheu zur Seite: «Man gewöhnt sich schwer daran, Tag und Nacht die Klagen zu hören, die aus den Gräben aufsteigen.»
    Ich blieb auf der Schwelle stehen: «Hat es Unruhen gegeben?»
    «Nicht eigentlich. Aber jede Nacht machen Männer den Versuch, Lebensmittel über die Mauern zu werfen. Kornsäcke sind gestohlen worden aus den Magazinen. Und die Leute murren.»
    «Für jedes Murren gibt es künftig 20   Peitschenhiebe», bestimmte ich. «Und jeder Mann, den ihr nachts auf den Wällen erwischt, wird sofort aufgehängt.»
    Caterinas Miene verwandelte sich; sie tat einen Schritt auf mich zu: «Willst du sie nicht wieder hereinlassen?»
    «Ach, so hör doch auf damit!» sagte ich.
    «Du hast mir gesagt: ‹Wenn ich sterbe, öffne die Tore der Stadt.›»
    «Ich bin aber nicht gestorben.»
    Ich sah, daß ihre Augen geschwollen waren, ihre Wangen hohl. Warum ist sie so traurig? Warum kommen alle mir so traurig vor? In mir strahlte Freude.
    Ich überschritt den rosigen Platz. Nichts hatte sich verändert; alles lag ebenso schweigend da, die Läden waren wie blind hinter den Holzverschlägen. Und doch war alles neu wie ein frischer Morgen; der stumme graue Morgen eines Tages, der strahlend zu werden versprach. Ich blickte die Sonne an, die rot im dunstigen Himmel hing, und lächelte vor mich hin; es schien mir, als könnte ich diesen großen, lustigen Ballon aus den Wolken holen. Der Himmel lag greifbar nahe, die ganze Zukunft schien dicht an meinem Herzen zu ruhen.
    «Alles in Ordnung? Nichts Neues?»
    «Nichts

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