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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Heil Italiens. Italiens Wohl.» Wie lange schon redeten sie? Seit Stunden oder seit Jahren? Sie hatten inzwischen die Kleider und die Gesichter gewechselt, aber die maßvollen Stimmen und die ernsten Blicke, die nur die nächste Zukunft ins Auge fassen konnten, waren noch dieselben.Auch die Worte glichen sich sehr. Herbstsonne vergoldete den Tisch und spielte auf der Kette, die ich in meiner Hand tanzen ließ. Es schien mir, ich hätte schon einmal ganz die gleiche Minute durchlebt: War es vor hundert Jahren? Oder vor einer Stunde? Oder in einem Traum? Ich dachte: Wird denn mein Leben immer die gleiche Farbe haben und den gleichen Geschmack auf meinen Lippen lassen? Und ich erklärte schroff:
    «Wir werden diese Besprechungen morgen wiederaufnehmen. Die Sitzung ist geschlossen.»
    Ich schritt durch die Tür meines Arbeitszimmers und ließ mein Pferd satteln. Man erstickte ja in diesem Palast! Ich ritt durch die neue Straße, deren weiße Mauern gelb geworden waren. Würde ich sie wohl in hundert Jahren noch sehen? Ich gab meinem Pferd die Sporen. Carmona war zum Ersticken.
    Lange trieb ich mein Pferd in der Ebene um; der Himmel zog rasch über meinem Kopf hin, und unter mir tanzte der Boden; so hätte ich ewig reiten mögen, mit dem Wind im Gesicht und tiefem Schweigen im Herzen. Aber als die Flanken meines Pferdes mit Schaumflocken bedeckt waren, fanden sich wieder Worte in meiner Kehle ein: Noch einmal ist Carmona gerettet. Aber was soll ich nun tun?
    Ich ritt den Hügel hinauf; der Weg stieg in Windungen an, allmählich überblickte ich die Ebene. Da unten zur Rechten war das Meer, dort hörte Italien auf; so weit das Auge reichte, war alles Italien, doch am Rande des Meeres und am Fuß der Berge hatte es ein Ende. Mit Mühe und Geduld könnte es in zehn oder zwanzig Jahren unter meiner Herrschaft sein. Und eines Nachts würden wieder meine Hände tatenlos von mir herunterhängen; den Blick auf einen fernen Horizont gerichtet, würde ich auf den Widerhall der Ereignisse warten, die sich jenseits der Berge und der Meere vollzogen.
    Italien ist zu klein, sagte ich mir da.
    Ich hielt mein Pferd an und sprang ab. Oft hatte ich so auf diesem Gipfel gestanden und auf die ewig gleiche Ebene heruntergeschaut. Aber auf einmal schien es mir, als habe sich erfüllt, wovon ich vor ein paar Stunden geträumt: ich spürte in meinem Mund einen neuen Geschmack. Die Luft hatte sich bewegt; um mich war alles neu. Carmona auf seinem Felsen, von seinen acht Türmen flankiert, die von Wind und Wetter bräunlich geworden waren, war nur ein riesiger Schwamm, und Italien rings um mich her war nur ein Gefängnis, dessen Mauern jetzt sanken.
    Da drüben lag das Meer; aber die Welt hörte ja mit dem Meer nicht auf. Schiffe mit weißen Segeln zogen nach Spanien zu, und noch weiter als Spanien, zu neuen Kontinenten. In diesen unbekannten Ländern beteten rothäutige Menschen die Sonne an und führten mit Beilen gegeneinander Krieg. Und jenseits von jenen Ländern gab es andere Ozeane und wieder andere Länder, die Welt hatte nirgends ein Ende; außer ihr gab es nichts: sie trug ihr Geschick im Herzen. Und schon war es nicht mehr Carmona und auch nicht mehr Italien, wo ich mich befand, sondern im Zentrum dieser weiten, einzigen, grenzenlosen Welt.
    Im Galopp sprengte ich von dem Hügel herab.
    Beatrice war in ihrem Zimmer; sie zeichnete auf einem Pergament rote und goldene Linien auf. Eine Schale voll Rosen stand neben ihr auf dem Tisch.
    «Nun?» fragte sie mich. «Was sagen deine Räte?»
    «Dummheiten», antwortete ich rasch.
    Erstaunt blickte sie mich an.
    «Ich komme mich verabschieden, Beatrice.»
    «Wohin gehst du denn?»
    «Nach Pisa. Ich will zu Maximilian.»
    «Was erhoffst du von ihm?»
    Ich nahm eine Rose aus der Schale und zerdrückte sie.
    «Ich werde zu ihm sagen: Carmona ist zu klein für mich, Italien ist zu klein. Man kann nichts ausrichten, wenn man nicht die ganze Welt beherrscht. Nehmt mich in Eure Dienste, und ich verschaffe Euch die Welt.»
    Lebhaft erhob sich Beatrice, sie war blaß geworden. «Ich verstehe nicht», sagte sie.
    «Es ist mir ganz gleich, ob ich unter meinem Namen herrsche oder unter dem eines anderen», sagte ich. «Da diese Chance sich bietet, ergreife ich eben diese. Ich werde auf das Glück des Hauses Habsburg setzen. Auf diese Weise kann ich vielleicht doch endlich etwas tun.»
    «Willst du Carmona verlassen?»
    Eine Flamme hatte sich in meinen Blicken entzündet.
    «Meinst du, ich will hier ewig in

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