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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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auf die Straße hinaus. Als ich den Boten traf, berichtete er mir, daß Castagneto sich ergeben hätte und Billona nahezu ebenso weit sei.
    An diesem Abend aß niemand zu Nacht. Beatrice und Varenzi schlossen sich mit mir ein in meinem Arbeitszimmer, und wieder warteten wir auf den Hufschlag von Pferden. Es schien, als hätte ich nichts mehr auf Erden zu tun, als regungslos dazustehen, die Stirn am Fensterrahmen, den Blick auf die leere Straße geheftet.
    «Bis heute abend wird Livorno genommen sein», sagte ich.
    «Was für ein Sturm», stellte Varenzi mit düsterer Stimme fest.
    Die Wipfel der Pinien bäumten sich wütend gegen den Wind, der auf der Straße Wirbel von Staub in die Höhe trieb; der Himmel war wie von Blei.
    «Das Meer ist stürmisch», fuhr er fort.
    «Ja», sagte ich. «Wir können keine Hilfe erwarten.»
    Die Straße war immer noch leer. Da drüben waren die Straßen jetzt sicher von Landsknechten bedeckt, die mit fliegenden Federn am Barett gegen Livorno zogen und auf ihrem Weg die Bewohner der Marktflecken hinmordeten; die deutschen Kanonen bombardierten den Hafen. Das aufgeregte Meer war öde und leer wie die Straße.
    «Er wird gewiß Carmona dem Herzog von Mailand geben», sagte ich.
    «Eine solche Stadt», sagte Beatrice voller Überzeugung, «kann bestimmt nicht sterben.»
    «Sie ist schon tot», sagte ich.
    Ich war das Oberhaupt der Stadt, und meine Hände waren ohnmächtig herabgesunken. Dort drüben schossen Kanonen auf eine fremde Stadt; jede Kugel schlug Carmona ins Herz, und die Stadt konnte nichts tun, um sich zu verteidigen.
    Es wurde Nacht. Wir konnten die Straße nicht mehr erkennen und auch beim Heulen des Sturms kein anderes Geräusch wahrnehmen; ich sah nicht mehr zum Fenster hinaus; ich blickte auf die Tür, durch die der Bote kommen mußte, ich lauschte auf seinen Schritt. Aber die Nacht verging, und die Tür öffnete sich nicht. Beatrice hatte die Hände auf der Brust gekreuzt, und mit aufrechtem Haupt schlief sie in edler Haltung. Varenzi grübelte. Es war eine lange Nacht. Die Zeit stand unbeweglich still in dem blauen Stundenglas, das niemand umwendete.
    Ich dachte an alle die Jahre, an zwei Jahrhunderte zurück, da ich für Carmona kämpfte. Ich hatte geglaubt, sein Geschick in den Händen zu halten, hatte es gegen Florenz verteidigt, gegen Genua beschirmt, versucht, die Gedanken der Signoria zu erraten, hatte meine Vertrauten in Pisa und Siena gehabt, Kundschafter nach Mailand geschickt; aber um die Kriege zwischen Frankreich und England kümmerte ich mich nicht, noch um die Vorgänge in Burgund oder die Streitigkeiten zwischen den deutschen Kurfürsten; ich ahnte nicht, daß jene fernen Schlachten, Zwiste und Bündnisse einmal für mich solche Nacht der Ohnmacht und der Unwissenheit herbeiführen würden und daß Carmonas Geschick sich überall in der ganzen Welt entschied. In dieser Nacht entschied es sich auf dem stürmischen Meer, in dem Lager der Deutschen, der Florentiner oder jenseits der Alpen indem leichtsinnigen, unzuverlässigen Herzen des Königs von Frankreich. Und alles, was in Carmona vorging, betraf Carmona nicht mehr. Als der Morgen nahte, waren Furcht und Hoffnung beide in mir tot: Carmona gehörte mir nicht mehr; und in der Schmach des nutzlosen Wartens hatte ich aufgehört, mir selber anzugehören.
    Gegen Mittag erst kam ein Reiter um die Biegung der Straße: Livorno war gerettet. Trotz der schweren See war eine französische Flotte von sechs Schiffen und zwei Galeonen, mit Korn und Soldaten beladen, im Hafen angekommen; die Heftigkeit des Windes hatte die Genueser und die venezianische Flotte gezwungen, sich in der Mündung der Melina in Sicherheit zu bringen, und so hatten die Franzosen, ohne den Eingang erzwingen zu müssen, einfach mit vollen Segeln in den Hafen von Livorno einlaufen können.
    Einige Tage später erfuhren wir, daß Maximilian, da ein Sturm der kaiserlichen Flotte schwer zugesetzt hatte, mit seinen Truppen auf Pisa zurückgegangen sei, wobei er erklärt habe, er könne nicht gleichzeitig gegen Gott und die Menschen kämpfen. Ich hörte diese Nachrichten alle mit Gleichmut an: es war mir, als beträfen sie mich nicht mehr.
    «Man muß die Verhandlungen mit Venedig wiederaufnehmen», rief Varenzi aus. «Maximilian hat kein Geld; wenn Venedig ihm keine Subsidien gibt, wird er Italien verlassen.»
    Die übrigen Ratgeber billigten seine Worte. Früher hatten sie gesagt: «Das Heil Carmonas. Carmonas Wohl.» Aber jetzt hörte ich: «Das

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