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Alle Menschen sind sterblich

Alle Menschen sind sterblich

Titel: Alle Menschen sind sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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ich auf einmal aus der Vergangenheit eine lange vergessene Stimme, die mir angstvoll zurief: «Trinke nicht!»
    «Nichts also», sagte ich, «was ich tue, was ich bin, hat Wert in deinen Augen, weil ich unsterblich bin?»
    «So ist es», sagte sie. Sie legte mir die Hand auf den Arm. «Du hörst jene singende Frau. Wäre ihr Lied so ergreifend, wenn sie nicht sterben müßte?»
    «So ist es also ein Fluch?» sagte ich.
    Sie erwiderte nichts; es gab nichts zu erwidern; denn es war ein Fluch.
    Heftig stand ich auf und nahm Beatrice in meine Arme.
    «Und doch bin ich da», sagte ich. «Ich lebe, ich liebe dich, und ich leide dadurch. In alle Ewigkeit werde ich dich nicht mehr finden, nie mehr wirst du es sein.»
    «Raimondo», sagte sie.
    Diesmal war Mitleid in ihrer Stimme, vielleicht sogar Zärtlichkeit.
    «Versuche mich zu lieben», sagte ich. «Versuche es doch.»
    Ich preßte sie an mich, und ich fühlte, wie sie in meinen Armen nachgab. Ich drückte meinen Mund auf ihren Mund; ihre Brüste bebten dicht an meiner Brust; aber ihre Hand sank an ihrer Hüfte herab.
    «Nein», sagte sie, «nein.»
    «Ich liebe dich», sagte ich. «Ich liebe dich als Mann, so wie ein Mann eine Frau liebt.»
    «Nein.»
    Sie zitterte; sie machte sich von mir frei.
    «Verzeih mir», murmelte sie.
    «Warum?» fragte ich.
    «Dein Körper macht mir angst. Er ist von fremder Art.»
    «Er ist aus Fleisch und Blut wie der deinige.»
    «Nein.» Tränen stiegen ihr in die Augen. «Kannst dumich verstehen? Ich ertrage es nicht, von Händen gestreichelt zu werden, die niemals verwesen werden. Es ist wie eine Demütigung.»
    «Sage lieber, es graust dir davor.»
    «Das ist dasselbe», sagte sie.
    Ich sah meine Hände an; Hände, auf denen ein Fluch lag. Ich verstand. «Es ist an dir, zu verzeihen», sagte ich. «Seit zweihundert Jahren hatte ich noch nichts begriffen. Jetzt begreife ich. Beatrice, du bist frei; wenn du fortgehen willst, so geh; und wenn du je einen Mann liebst, so liebe ihn vorbehaltlos.» Ich wiederholte: «Du bist frei.»
    «Frei?» sagte sie.
     
    Noch zehn Jahre hindurch wüteten Brände, Plünderungen, Gemetzel in unseren Marken. Nach dieser Zeit zog Karl   VIII. von Frankreich nach Italien, um seinen Anspruch auf die Nachfolge im Königreich Neapel durchzusetzen; Florenz hatte ihm ein Bündnis angeboten; er spielte den Vermittler zwischen dieser Stadt und uns; wir behielten Rivello, doch mußten wir dafür an unsere Feinde schweren Tribut entrichten.
    Seit Jahren war ich gezwungen, den Schutz der Franzosen zu suchen; doch mit Verzweiflung im Herzen sah ich, wie Italien ihrer Tyrannei sowie allen Wirren des Bürgerkriegs und der Anarchie ausgeliefert war. «Ich bin schuld», sagte ich mir voller Bitternis. Hätte ich damals Carmona den Genuesern übergeben, so wäre es Genua sicher gelungen, ganz Toscana zu erobern, und die Überfälle der Fremden wären an dieser Schranke zerschellt. Mein verblendeter Ehrgeiz, der Sonderehrgeiz der kleinen Städte, hatte Italien verhindert, sich zu einer Nation zusammenzuschließen, so wie es England und Frankreich und letzthin auch Spanien taten.
    «Noch ist es Zeit», sagte Varenzi mit glühender Zuversicht.
    Varenzi war ein berühmter Gelehrter, der eine
‹Geschichte der italienischen Stadtstaaten›
verfaßt hatte und jetzt nach Carmona gekommen war, um mich anzuflehen, unser unglückliches Land zu erretten; er beschwor mich, eine große Vereinigung aller italienischen Staaten zu betreiben, deren gemeinsame Interessen ich dann verwalten sollte. Er hatte zuerst seine Hoffnung auf Florenz gesetzt; aber die mächtige Partei der durch Savonarola fanatisierten Büßer gab auf keine Macht etwas als auf die der Gebete, und sie beteten nur für den Sonderruhm ihrer Stadt. So war Varenzi nunmehr zu mir gekommen. So schwach Carmona auch war nach fünfzehn Jahren Krieg, schienen seine Pläne doch nicht undurchführbar: bei dem Zustand der Anarchie und der Unsicherheit, in dem Italien sich befand, genügte ein entschlossener Mann, dem Schicksal zu begegnen. Als Karl   VIII. die Hoffnung auf Neapel aufgab und wieder über die Alpen zog, entschloß ich mich zu handeln. Nachdem ich mein Bündnis mit Florenz durch pünktliche Tributleistungen sicher untermauert hatte, nahm ich Verhandlungen mit Venedig auf. Aber der Herzog von Mailand bekam Wind von meinen Plänen. Die Macht einer Liga fürchtend, deren Haupt er nicht wäre, schickte er Gesandte zu seinem Neffen Maximilian, der der König der Römer

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