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Alle muessen sterben

Alle muessen sterben

Titel: Alle muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B. C. Schiller
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mich zu duzen!“ Zorn schlug mit seiner Faust auf den schwarzen Klavierflügel, den er hasste, weil ihn sein Vater immer gezwungen hatte, darauf Liszt zu spielen. Für einen kurzen Augenblick dachte er daran, sein Handy einfach in den Kamin zu werfen, um das Video zu verbrennen, um alles ungeschehen zu machen.
    „Der Learjet ist eingetroffen“, wiederholte Xenia, doch Zorn schien sie überhaupt nicht zu hören. Plötzlich starrte er gebannt durch die großen gläsernen Flügeltüren nach draußen in die morgendliche Dämmerung, wo der Regen auf die Terrasse trommelte, und versuchte, durch sein undeutliches Spiegelbild hindurch etwas zu erkennen.
    „Sei still! Sie ist wieder auf der Terrasse! Ich habe ihre Schritte ganz deutlich gehört“, flüsterte er. „Sie weiß, dass ich hier bin!“
    Draußen vor den großen Flügeltüren, die hinaus auf die Terrasse und in den Park führten, bewegte sich ein Schatten schnell durch den Regen und reflexartig packte Zorn den Arm von Xenia.
    „Da ist sie schon wieder“, flüsterte er und zog Xenia mit sich zu den Flügeltüren.
    „Lass mich sofort los!“, zischte Xenia und versuchte sich aus seiner Umklammerung zu befreien. „Du tust mir weh! Ich sehe jedenfalls nichts, du bildest dir alles bloß ein!“
    „Das ist keine Einbildung. Sie ist irgendwo da draußen und wartet auf mich! Sie verfolgt mich immer, wenn ich hier in Gmunden bin! Sie spricht niemals ein Wort. Richtig unheimlich ist das Ganze!“
    „Ich habe sie jedenfalls noch nie gesehen. Könnte es nicht sein, dass du dir das alles einbildest? Du hast einfach zu viel um die Ohren! Die Firma und natürlich dein Vater, da kann die Phantasie schon mit einem durchgehen“, versuchte ihn Xenia zu beruhigen.
    „Plötzlich taucht sie ganz leise auf, schweigt und filmt mich ständig mit ihrem Handy! Dieses Schweigen macht sie so gefährlich.“
    „Los, suchen wir diese Spukgestalt“, sagte Xenia genervt.
    Zorn trat einen Schritt zurück, als Xenia die hohe Glastür öffnete und im strömenden Regen nach draußen auf die Terrasse trat. Von hier aus hatte man normalerweise einen grandiosen Blick über den Traunsee und die Berge auf der anderen Uferseite. Doch im Augenblick konnte man keine zwei Meter weit durch den Regen sehen. Xenia schien das nichts auszumachen. Sie hatte die Arme in die Hüften gestützt und ihr langes blondes Haar, das sie zuvor noch hochgesteckt hatte, löste sich im Wind und fiel über ihre Schultern.
    „Xenia, kommen Sie bitte wieder in den Salon, es zieht!“, rief Edgar Zorn hektisch, denn er wusste, was gleich passieren würde. Und so war es auch: Sein Vater begann plötzlich in seinem Rollstuhl wie ein verletztes Tier zu kreischen und mit seiner gesunden Hand wütend auf die Armlehne zu hämmern. Mit beiden Händen fuhr sich Edgar Zorn durch seine dichten, stark ergrauten Haare, spürte eine aufkommende Migräne. Wie gut, dass er gleich aufbrechen musste.
    „Xenia, hätten Sie die Freundlichkeit, sich wieder zu uns zu gesellen, damit ich die Tür schließen kann“, rief er übertrieben künstlich nach draußen, um seinen Vater zu beruhigen, doch Xenia war nirgends mehr zu sehen. „Xenia! Ich schließe jetzt die Tür, wenn Sie nicht sofort zurückkommen!“
    Vorsichtig machte er einen Schritt Richtung Terrasse und hörte plötzlich, dass die unartikulierten Schreie seines Vaters noch schriller und fordernder geworden waren und gemeinsam mit dem monotonen Schlagen auf die Armlehne des Rollstuhls einen destruktiven Lärm erzeugten, der ihn zu verschlingen drohte und dem er sich nur durch konsequentes Ignorieren entziehen konnte.
    Deshalb nahm er all seinen Mut zusammen und trat nach draußen, ohne die Flügeltür hinter sich zu schließen. Als er auf der Terrasse stand, stellte er fest, dass der kühle Regen seine Kopfschmerzen linderte und sich am Horizont bereits eine diffuse Helligkeit ausbreitete, die den neuen Tag ankündigte. Unten am Seeufer sah er durch den Regen eine schemenhafte Gestalt den gekiesten Weg entlanglaufen. Es war das Waldmädchen, da war sich Edgar Zorn sicher.
    „Warum verfolgst du mich ständig? Lass mich doch einfach in Ruhe!“, schrie er zu dem Mädchen hinunter und schwang drohend die Faust. Die schattenhafte Gestalt hörte seine wütenden Schreie, blieb plötzlich stehen, überlegte einen Augenblick und lief dann direkt zu ihm hoch. Zorns Herz pochte wie verrückt, doch diesmal wollte er nicht davonlaufen, so wie er sonst immer vor allen Entscheidungen

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