Alle muessen sterben
davonlief. Diesmal entschied er, sich diesem merkwürdigen Waldmädchen zu stellen, um endlich zu wissen, warum sie hinter ihm her war.
Er ging die Stufen von der Terrasse nach unten, stellte sich breitbeinig hin und ballte die Fäuste, seine grauen Haare hingen ihm ins Gesicht und der Regen tropfte in seinen Kragen. Er schloss die Augen, als sie über den Kies stürmte und nahm sich vor, sie kommentarlos niederzuschlagen, so wütend war er. Dann stand sie auch schon vor ihm und Zorn zuckte zusammen.
„Warum schreist du so?“ Xenia war nur ein wenig außer Atem, als sie vor ihm stand und seine geballten Fäuste mit ihren Händen umschloss. „Du bist doch viel zu feige, um zu kämpfen!“
Lachend sprang sie die steinerne Treppe zur Terrasse hoch. „Da war niemand. Es gibt kein Waldmädchen und warum sollte sie ausgerechnet dich filmen? Vielleicht ist sie ja in dich verliebt? Verliebt in einen Schlappschwanz!“ Wieder lachte Xenia höhnisch, fand diese Vorstellung völlig absurd und das machte Zorn nur noch wütender.
„Du hast ja keine Ahnung, wer ich wirklich bin!“, zischte er und seine Miene verzerrte sich. Doch schnell hatte er sich wieder unter Kontrolle und lächelte süßlich. „Sicher hast du recht, Xenia. Es ist alles nur Einbildung.“
„Warum hast du so geschrien?“, wiederholte Xenia ihre Frage, strich sich mit beiden Händen die nassen Haare zurück und wischte sich Regentropfen von der Stirn. Ihr Gesicht war vom Laufen erhitzt und leuchtete.
„Ich dachte schon, du wärst diese Verrückte! Die plötzlich vor mir steht, um mich umzubringen“, sagte er und kraulte sich nervös seinen grauen Kinnbart.
„Warum sollte sie dich denn umbringen wollen? Aber vielleicht gibt es in deinem Leben ja Dinge, weswegen man dich umbringen müsste“, murmelte Xenia verächtlich und drängte sich an ihm vorbei hinein in den Salon. „Was ist nur heute mit deinem Vater los? Der schreit wie verrückt und schlägt seinen Rollstuhl kurz und klein“, rief sie.
„Ach, du meine Güte! Ich habe völlig auf ihn vergessen!“, rief Zorn, eilte zurück in den Salon und schloss die Terrassentür.
Verstohlen blickte er an Xenia vorbei zu seinem Vater. Dieser hatte aufgehört zu schreien und hing jetzt wieder leblos in seinem Rollstuhl. Sein Mund war nach dem letzten Schlaganfall schräg nach unten gekippt, was ihm einen beleidigten Ausdruck verlieh, und war wie immer halb geöffnet. Der ständige Speichelfluss hatte bereits einen schmierigen weißlichen Fleck auf seiner samtenen Hausjacke gebildet und wanderte jetzt Richtung Hose hinunter.
„Xenia, könnten Sie bitte Vater diese ekelhafte Spucke wegwischen!“, befahl er Xenia. „Ich muss mich übergeben, wenn ich das noch länger ansehe!“
„Ich bin nicht die Pflegerin, sondern deine Pressesprecherin“, empörte sich Xenia und trat einen Schritt zurück. „Wisch ihm doch selbst den Mund ab, du Schwächling!“ Sie zog ein Taschentuch aus ihren Jeans und hielt es Zorn auffordernd entgegen.
„Du sollst ihm den Mund abwischen“, fauchte Xenia und machte einen energischen Schritt auf ihn zu. „Sei einmal kein Feigling!“
Alle Farbe wich aus seinem Gesicht und mit seinen grauen Haaren, seinem grauen Kinnbart und seinem grauen Gesicht wirkte er geisterhaft und durchlässig.
„Ich kann nicht“, wehrte Zorn panisch ab, wich langsam zurück, zuckte zusammen, als er an den schwarzen Klavierflügel stieß und schlug beide Hände vors Gesicht.
„Ich kann es einfach nicht. Ich hasse meinen Vater!“
9. Das versperrte Zimmer
Die Tür war notdürftig mit Schaumstoff verkleidet, um den Lärm so gut wie möglich abzuhalten. Außerdem hatte die Tür drei Schlösser und zusätzlich noch ein metallenes Scharnier mit einem großen Vorhängeschloss. Trotzdem war diese Tür im Grunde nichts Außergewöhnliches. Das Besondere an ihr war nur, dass sie sich in einer normalen Wohnung befand und einen Raum verschloss. In dem Raum dahinter lebte jemand, den man in seiner derzeitigen Verfassung nicht hinauslassen durfte.
Als das Handy schrillte, war es kurz vor fünf Uhr morgens. Inspektor Dominik Gruber brauchte einige Sekunden, um sich in der Wirklichkeit zu orientieren, denn er war gerade mit der völlig cleanen Lenka in einem weißen Segelboot über das azurblaue Meer geglitten und hatte gemeinsam mit ihr den kitschigen Sonnenuntergang bewundert.
„Ja, natürlich bin ich schon wach“, krächzte er und hörte kurz zu. „Geht klar. Ich warte auf dich in fünfzehn
Weitere Kostenlose Bücher