Alle muessen sterben
See. Er ließ das Video weiterlaufen, bis eine Explosion den Mann am Mast in Flammen setzte, und stoppte wieder bei dem Zoom auf das schmerzverzerrte Gesicht.
„Wie viel kann ein Mensch nur ertragen. Ich muss dieses Video sofort löschen und dafür sorgen, dass es niemand in die Finger bekommt“, versuchte er sich zu beruhigen, während er die Löschfunktion seines Smartphones aktivierte und doch wieder zauderte. Denn es half alles nichts, das Video war nun einmal vorhanden und dieser Tatsache konnte er sich nicht entziehen.
Nervös biss Edgar Zorn auf seine Fingernägel, widerstand dem Drang, sich das Video erneut anzusehen, und strich sich mit seinen Händen über seine aschgrauen Wangen. Am liebsten hätte er sich jetzt dafür bestraft, um so sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Er wusste natürlich, dass er das Video löschen musste. Nicht auszudenken, wenn sein Vater es zu sehen bekäme oder Xenia. Beide würden ihn dann noch tiefer verachten. Wieso hatte er eigentlich ständig Angst vor seinem Vater? Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann, müsste eigentlich selbstbewusst sein, verspürte aber immer noch diese tiefsitzende Angst, wenn er in diese Villa kam.
Sein 75-jähriger Vater saß hinter ihm in seinem Rollstuhl und starrte mit leerem, nach unten gekipptem Grinsen in den Kamin, in dem auch im Juli ein Feuer brannte, weil es ständig regnete und das Feuer den alten Zoltan Zorn beruhigte. Vielleicht sollte er doch einen Psychiater aufsuchen, denn diese waren ja an die ärztliche Schweigepflicht gebunden, und mit ihm über diese Ängste und Obsessionen sprechen? Mit dem Video war eine neue Dimension erreicht worden, sollte dieses Video echt sein, dann war eine Grenze überschritten worden.
Edgar Zorns bleiches, weiches Gesicht, mit dem exakt geschnittenen grauen Kinnbart, schien geschrumpft zu sein, tiefe Falten bildeten sich auf der Stirn und die Wangen hatten ihre Straffheit verloren und hingen grau und schlaff nach unten. Dieses Gesicht entsprach wesentlich mehr seinem Wesen. Denn Edgar Zorn war mit Ende dreißig noch immer linkisch und gehemmt, zeigte sich nur ungern in der Öffentlichkeit und seine frühzeitig ergrauten Haare passten vorzüglich zu seinem unscheinbaren Äußeren. Doch als Erbe der Modekette Red Zorn musste er weitreichende Entscheidungen treffen, nachdem sein diktatorischer Vater Zoltan nach einer Serie von Schlaganfällen geschäftsunfähig geworden war.
Red Zorn befand sich mitten in einer groß angelegten PR-Offensive, denn das Unternehmen wollte sich als das einzige internationale Textilunternehmen positionieren, das seine Bekleidung unter Einhaltung der EU-Richtlinien für faire Arbeitsbedingungen und Bezahlung in Moldawien vorproduzieren und anschließend komplett in Österreich fertigen ließ. Um die Produktion in Moldawien zu westlichen Bedingungen und in der österreichischen Fabrik, die in den ehemaligen Tabakwerken in Linz untergebracht war, langfristig abzusichern, erhielt Red Zorn hohe Subventionen und Förderungen aus Brüssel. Durch diesen PR-Coup war es Edgar Zorn gelungen, die drohende Insolvenz seines Unternehmens zu verhindern, aber das wusste natürlich keiner seiner Geschäftspartner. Genauso wenig wie sie eine Ahnung davon hatten, dass er sich in wenigen Tagen mit dem umstrittenen Trajan Gordschuk treffen würde, der Europas größte Textilfabrik in Moldawien leitete.
„Ich soll dich daran erinnern, dass der Learjet mit Hendrik Glanz bereits auf dem Flughafen Hörsching in Linz gelandet ist!“ Edgar Zorn erschrak so heftig, dass ihm beinahe das Smartphone aus der Hand gefallen wäre, als er die Stimme von Xenia Hansen, seiner Pressesprecherin, hinter sich hörte.
„Du sollst mich nicht duzen, wenn mein Vater im Zimmer ist“, fauchte er leise und warf einen schnellen Blick auf den zusammengekrümmten Mann im Rollstuhl, dem unablässig der Speichel aus dem rechten Mundwinkel tropfte und der mit leerem Blick in das Feuer starrte.
„Dein Vater kann uns doch gar nicht verstehen“, antwortete Xenia und blickte Edgar Zorn fragend an. „Ist irgendetwas passiert?“ Sie sah von Zorns Gesicht zu dem Smartphone, das dieser mit spitzen Fingern wie einen giftigen Fremdkörper in der Hand hielt.
„Nein, was soll denn passiert sein?“
„Du starrst so auf dein Handy!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wollte ihm Xenia das Smartphone aus der Hand nehmen, doch Zorn hielt es fest und steckte es schnell in die Innentasche seiner grauen Leinenjacke.
„Hör auf
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