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Alle muessen sterben

Alle muessen sterben

Titel: Alle muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B. C. Schiller
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Gordschuk hatte sofort den Namen auf Octotex ändern lassen. Octo von Oktober war der Verweis auf die russische Oktoberrevolution, die er nach wie vor bewunderte, und Tex stand einfach für Textil. Als nächsten Schritt hatte er schnell mit den vorsintflutlichen Produktionsmethoden aufgeräumt und ein modernes 2-7-Schicht-System installiert.
    Da Transnistrien keine Einmischung von Moldawien oder der EU akzeptierte, wurden auch die Arbeitsbedingungen nicht kontrolliert. Deshalb war es möglich, dass bei Octotex in zwei Schichten an sieben Tagen die Woche rund um die Uhr gearbeitet werden konnte, anstelle von drei Schichten an fünf Tagen, wie es die EU vorschrieb. Gordschuk hatte auch die Direktive ausgegeben, dass ausschließlich weibliche Arbeiter eingestellt werden durften, von denen keine jünger als 12 oder älter als 30 Jahre zu sein hatte. Nur so war das gewaltige Pensum zu bewältigen, denn Mode- und Handelsketten aus der ganzen Welt ließen bei Octotex fertigen. Transnistrien gehörte zwar offiziell nach wie vor zu Moldawien, das die EU-Richtlinien für Menschenrechte, Arbeitsschutz und gerechte Bezahlung akzeptiert hatte, doch hier scherte sich keiner darum.
    Gordschuk goss sich sein zweites Glas Wodka ein und betrachtete gelangweilt die lange Prozession von Arbeiterinnen, die nach dem Morgenappell über den Exerzierplatz gingen, um sich wieder an ihre Maschinen zu setzen. Der Appell bei Schichtwechsel war seine Erfindung, um die Arbeiterinnen durch Kultur zu motivieren. So ließ er täglich von einem arbeitslosen Schauspieler Gedichte des revolutionären russischen Poeten Majakowski rezitieren und nahm sich vor, demnächst auch seine selbst verfasste „Ode an die kollektive Arbeit“ vortragen zu lassen.
    Von seinem Büro aus wirkten die in einheitlichen blauen Overalls steckenden Arbeiterinnen wie Ameisen, die jederzeit zertreten werden konnten, wenn sie aufmuckten. Aber keine der Arbeiterinnen muckte auf, denn Moldawien war das ärmste Land Europas und Transnistrien noch viel ärmer. Jede der Frauen war froh, für einige Euros in der Fabrik zu arbeiten und damit ihre Familien am Leben zu erhalten. Die Arbeiterinnen waren aber auch das Kapital von Octotex, so jedenfalls stand es auf der Homepage, wo in den höchsten Tönen von dem einzigartigen weiblichen Kollektiv geschwärmt wurde.
    Ein diskretes Räuspern riss ihn aus seinen Gedanken. Jewtschuk, sein Sekretär, stand in der Tür und hielt einen Stoß Papiere in den Händen.
    „Das sind die Unterlagen für die Besprechung, die am Nachmittag stattfindet“, sagte er unterwürfig auf Russisch, denn Gordschuk bestand darauf, dass in der Fabrik ausschließlich Russisch gesprochen wurde und nicht Moldawisch.
    „Die Fabrik übernimmt die Vorfertigung für sämtliche Produkte der österreichischen Textilfirma Red Zorn. Der EU-Sonderbeauftragte und der Chef von Red Zorn werden morgen in Chisinau eintreffen, damit alles seine Richtigkeit hat“, informierte er Gordschuk.
    Unwirsch winkte Gordschuk mit einer Hand ab und drehte sich wieder zum Fenster.
    „Langweilen Sie mich nicht, Jewtschuk. Sie werden das schon zu meiner vollsten Zufriedenheit erledigen.“
    Unten, auf dem verschlammten Exerzierplatz, wo die Arbeiterinnen noch immer in exakt ausgerichteten Vierrerreihen in die verschiedenen Hallen gingen, scherte plötzlich eine der Arbeiterinnen aus der Kolonne aus und lief auf einen der Vorarbeiter zu. Interessiert trat Gordschuk näher ans Fenster, denn bisher war es noch nie vorgekommen, dass jemand die exakte Ordnung und militärische Aufstellung, die beim Schichtwechsel herrschte, durcheinandergebracht hatte.
    „Wer ist das?“, fragte er seinen Sekretär und deutete auf die Frau, die als kleiner unbedeutender Punkt im Schlamm stand und immer wieder ihre Hände dem Vorarbeiter entgegenstreckte.
    „Verzeihung, Herr Direktor, aber wir haben 3.000 Arbeiterinnen, da kann ich nicht jede beim Namen kennen“, entschuldigte sich der Sekretär.
    Gordschuk seufzte und nahm noch einen Schluck Wodka.
    „Dann informieren Sie sich gefälligst. Ich will wissen, wer den Appell gestört hat“, fauchte er und ging wieder zurück an seinen überdimensionierten Schreibtisch, hinter dem ein großes vaterländisches Gemälde hing.
    „Wir dürfen uns keine Abweichung von unserem Normplan erlauben, deshalb darf es auch keine Abweichung beim Schichtwechsel geben. Finden Sie heraus, worüber sich die Arbeiterin beschwert hat, und verhängen sie eine gerechte Strafe.

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