Alle muessen sterben
wissen. Er hat alle seine Sachen nach Linz geschickt, schon vor einigen Tagen. Das Zimmer ist komplett leer.“
Dimitri hatte nicht gelogen. Das Zimmer, das Tim Kreuzer im Schloss bewohnt hatte, war wirklich vollkommen leer. Nur im Bad standen noch einige Toilettenartikel und auf dem Boden lagen zwei T-Shirts mit Aufdrucken. Gruber tütete T-Shirts und Toilettenartikel ein und verstaute sie in seiner Umhängetasche. Trotzdem rief Braun noch die Spurensicherung an, damit sie ein Team herüberschicken würden, um auch ganz sicherzugehen, dass nichts übersehen wurde. Das Zimmer wurde versiegelt und Braun war froh, als sie das feuchte und modrige Schloss endlich verlassen konnten. Oben im Turm sahen sie noch die groteske Silhouette von Dimitri di Romanow mit der unglaublich dünnen Taille, der ihnen durch ein Schießscharten-Fenster hinterhersah.
Schweigend fuhren sie die Straße am Seeufer entlang zum Yachthafen, der im strömenden Regen mit seinen in Persenning gehüllten Segelbooten wie ausgestorben wirkte. Den ganzen restlichen Vormittag verbrachten sie mit Befragungen von möglichen Zeugen und den Beamten der Wasserschutzpolizei, die das Boot mit der verbrannten Leiche in den Hafen geschleppt hatten. Doch niemand hatte etwas gesehen. Im Yachthafen gab es keine Überwachungskameras und der Bericht der Spurensicherung würde frühestens am nächsten Tag auf Brauns Schreibtisch liegen.
Sie fuhren auch noch zur Werft, um einen Blick auf das halb abgebrannte Segelboot zu werfen. Das Boot stand aufgebockt in einer Halle, war wie ein zu restaurierendes Gebäude eingerüstet und fünf Männer von der Spurensicherung in weißen Papieroveralls werkten geschäftig an Bord. Es gab zwar eine Menge von Fingerabdrücken, doch es war noch zu früh für eine endgültige Analyse. Der einzige interessante Aspekt war die Aussage des Polizisten, der den Bootsschuppen bewachte. Dieser hatte eine junge Frau mit roten Haaren verjagt, die versucht hatte, im Morgengrauen den Schuppen aufzubrechen. Der Beamte konnte sich nur daran erinnern, dass sie eine grüne Regenjacke getragen hatte.
Braun dachte sofort an das Mädchen, das sich an seinem Wagen zu schaffen gemacht hatte, und er beschloss, bei nächster Gelegenheit jemanden aus seinem Team mit einer Recherche zu beauftragen. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass dieses Mädchen vielleicht etwas mit dem Fall zu tun haben könnte. Nach wie vor tappten sie im Dunkeln, einzig die Spur mit dem verdächtigen Dimitri di Romanow schien vielversprechend. Auf dem Weg zurück nach Linz dachte er wie so oft an Kim Klinger, widerstand aber dem Drang, sie bei Tag anzurufen.
15. Ein verhängnisvolle Beschwerde
Als Polina Porzikova aus der Viererkette ausscherte und durch den Schlamm auf den Vorarbeiter zuging, ahnte sie noch nicht, dass dieser Schritt ihre Karriere als Pianistin beenden würde. Sie wusste auch nicht, dass im obersten Stockwerk des Verwaltungsgebäudes von Octotex ein massiger Mann mit einem Wodkaglas am Fenster stand und sie beobachtete. Sie verschwendete auch keinen Gedanken daran, wen sie heiraten würde, denn dafür fühlte sie sich mit ihren 19 Jahren noch viel zu jung. Alles, was sie interessierte, war, die Goldberg-Variationen von Bach ebenso virtuos auf dem Klavier zu spielen wie ihr großes Vorbild Glenn Gould. Doch das Schicksal hatte andere Pläne mit ihr, denn genau in dem Augenblick, als Polina mit einer Beschwerde zu einem der Vorabeiter lief, sah Trajan Gordschuk aus dem Fenster und veränderte dadurch Polinas Leben.
Trajan Gordschuks Büro befand sich im 20. Stockwerk des neu erbauten Verwaltungsturms von Octotex. Zur Octotex Holding gehörten mehrere landwirtschaftliche Kombinate, eine Fluglinie, ein Busunternehmen und eine Bank. Kernstück des Firmenkonglomerats war aber die Textilfabrik Octotex, die völkerrechtlich zwar zur Republik Moldawien gehörte, sich aber auf dem Staatsgebiet von Transnistrien befand, einer Provinz, die sich 1992 von Moldawien abgespaltet und eine international nicht anerkannte postsowjetische Pseudo-Republik installiert hatte.
Trajan Gordschuk war mit 45 Jahren bereits Direktor der Textilfabrik Octotex und sehr stolz auf diese Karriere. Er war der Sohn einfacher russischer Landarbeiter, hatte sich aber durch seine rücksichtslose Art bald einen Namen in der Partei gemacht und war nach der Abspaltung von Transnistrien zunächst als Vizedirektor in die Fabrik gekommen. Damals hieß die Fabrik noch „Kombinat Roter Oktober“, aber
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