Alle muessen sterben
zerdrückte Zigarettenpackung aus ihrer Jacke und steckte sich eine Zigarette in ihren Mund, ohne sie anzuzünden. Wie in Trance kickte sie ihre Schuhe weg und legte sich auf den Stahltisch, spürte die Kälte der Metallfläche, die sich mit der Kälte in ihrem Inneren verband und ihr Herz wie einen Eisblock umschloss. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie nach oben auf den mobilen Leuchtschirm, der, eingeschaltet, mit seinen hunderten von feinen Punktstrahlern jedes Geheimnis der Toten, die auf diesem Tisch landeten, ausleuchten würde.
Doch Elena Kafka war nicht tot und der Leuchtschirm nicht aktiviert, und so lag sie im Halbdunkel, versuchte ihr hektisches Atmen wieder unter Kontrolle zu bekommen und widerstand dem Drang, ihre Zigarette zu rauchen. Stattdessen ließ sie sich zurückfallen in einen Sommer vor beinahe 26 Jahren, in dem sie ihr Studium abgeschlossen hatte und nur davon träumte, endlich ins Ausland zu gehen. Doch zuvor hatte sie sich in einen fast zehn Jahre älteren Mann verliebt und die Dinge nahmen ihren Lauf. Ächzend drehte sich Elena zur Seite, zog die Beine an und klemmte ihre Hände zwischen die Knie. Ja, das stimmte, die Dinge nahmen ihren Lauf, aber sie wollte ins Ausland, sie wollte nach Amerika, weg aus diesem konservativen Österreich, in dem man immer sofort an die Grenzen stieß. Abrupt setzte sie sich auf und schlüpfte wieder in ihre Schuhe. Die Zigarette klebte immer noch mit dem Filter an ihren Lippen und sie verließ langsam den Raum. In dem langen Korridor blieb sie stehen und zündete sich die Zigarette an, inhalierte genüsslich und blies den Rauch an die Decke. Sie ließ sich nicht durch die plötzlich aufheulenden Sirenen aus der Fassung bringen oder durch die blauen Lichter, die oberhalb der Tür alarmierend zu rotieren begannen. Auch den feinen Sprühregen, der jetzt aus den Düsen von der Decke spritzte und sie innerhalb weniger Sekunden völlig durchnässte, registrierte sie nicht, sie war viel zu sehr mit ihrer Geschichte beschäftigt, einer Geschichte, die nicht wie im Märchen mit einem Happy End, sondern mit mehreren Dramen geendet hatte.
14. Der Schuss im Regen
Ein Schuss krachte durch den Park und mit einem verhaltenen Knurren richtete sich der eisgraue Wolf auf. Er drehte den mächtigen Kopf zur Seite, sprang mit einem gewaltigen Satz in die Büsche und war sofort verschwunden. Vögel flatterten auf und ein rotbraunes Eichhörnchen raste einen Baumstamm entlang. Die Luft war feucht und der Geruch nach Moder und verfaultem Holz legte sich wie eine tödliche Giftwolke über den vom Regen aufgeweichten Boden.
Langsam richtete sich Tony Braun auf, klopfte sich den Schmutz von seinem Anzug und strich sich die nassen Haare aus der Stirn. Er warf einen Blick zu seinem Range Rover, der noch immer am Straßenrand stand, aber das Mädchen war verschwunden.
„Das war ein Wolf!“, hörte er seinen Partner Dominik Gruber fassungslos rufen und drehte sich um. Gruber hielt noch immer die Glock in der Hand, mit der er gerade einen Warnschuss abgefeuert hatte, um den Wolf von Braun zu vertreiben. „Der Wolf muss aus einem Tierpark entlaufen sein!“ Gruber wirkte noch immer völlig irritiert. „Ein echter Wolf!“
„Ich denke, dieser Wolf gehört zu dem Mädchen“, sagte Braun und starrte in das Gebüsch, in dem der Wolf verschwunden war. „Das Mädchen hat gepfiffen und das Tier war sofort zur Stelle und hat mich umgerissen. Das Mädchen hat diesen Wolf dressiert.“
„Das ist doch kompletter Blödsinn!“ Gruber steckte seine Glock zurück in das Halfter. „Einen Wolf kann man gar nicht dressieren!“
„Ich habe es doch mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leib gespürt. Das Mädchen hat gepfiffen und zack!, war der Wolf schon über mir! Perfekt abgerichtet zu einer sehr effizienten Waffe.“
Braun ging den morastigen Trampelpfad weiter zur Straße. „Also rede bloß keinen Scheiß!“
Als sie den Range Rover erreichten, riss Braun die Wagentür auf und konnte im ersten Moment nichts entdecken, was für das Mädchen von Interesse gewesen sein könnte. Die Rückbank seines Wagens war mit Musikkassetten, leeren Bierdosen, Papiertüten und Sushiboxen zugemüllt. Doch dann sah er das Foto. Wahrscheinlich war es aus der Mappe gerutscht, als Braun während der Fahrt die Unterlagen zu Gruber nach vorne holte. Es war der Ausdruck eines vergrößerten Handyfotos, das der Zeuge auf dem See gemacht hatte und das den brennenden Tim Kreuzer auf dem Segelboot
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