Alle muessen sterben
sprang er auf, kramte ein stabiles großes Brett, in das man unzählige Löcher gebohrt hatte, aus einem Regal, legte es auf den eiskalten Steinfußboden.
Ein Kunstwerk zu erschaffen kostet Blut, Schweiß und Tränen, vor allem aber Blut, ging es ihm durch den Sinn, als er langsam die eisernen Stäbe einen nach dem anderen in das Brett steckte. Wie der Kurator eines Museums betrachtete er sein vollendetes Werk, drückte auf die Fernbedienung und der Countertenor begann erneut hell und rein wie ein Engel zu singen.
Von der Musik befeuert, schob er das Brett vor den großen Spiegel, platzierte auch noch zwei Kerzenleuchter links und rechts vom Brett, das mit den gut 30 Zentimeter langen, spitzen Eisenstäben wie das gefährlich eigenwillige Nagelbrett eines indischen Fakirs aussah.
Wie in einer Stripshow zog Dimitri dann vor dem Spiegel seine hochhackigen Schuhe aus, schrumpfte plötzlich auf Zwergengröße zusammen. Mit gezierten Handbewegungen schob er das schwarze T-Shirt über seinen Kopf, zurrte seinen Zopf mit dem Stacheldraht so fest, bis seine Kopfhaut schmerzte, betrachtete seinen schmächtigen, bleichen Körper im Spiegel, drehte sich um die eigene Achse, öffnete den Bund seiner Hose und ließ sie gekonnt zu Boden fallen. Nackt und eingefallen im Schein der flackernden Kerzen wirkte er wie ein frühzeitig gealtertes Kind.
Im Rhythmus des Orchesters stellte er seinen Lieblingsstuhl mit der hohen Lehne vor das Brett mit den eisernen Stäben und kletterte auf die Sitzfläche. Er richtete sich vorsichtig auf, hielt seine Hände waagrecht, um nicht die Balance zu verlieren, starrte unverwandt in den Spiegel, in dem seine Silhouette plötzlich einen riesigen Schatten warf und seine Taille das Idealmaß erreichte.
Ein glückliches Lächeln huschte über das Gesicht von Dimitri und er atmete tief durch. Auf Zehenspitzen balancierend, wartete er auf den Einsatz des Orchesters. „I’m very, very happy!“, sang der Countertenor, vom Orchester zu einem himmlischen Jauchzen getrieben. Dimitri di Romanow schloss die Augen und ließ sich auf das Brett mit den spitz zugefeilten Eisenstäben in den selbst gewählten Tod fallen.
29. Ein ungeklärter Todesfall
Durch die Feuchtigkeit, die von der Donau aufstieg, war die billige Leinwand auf der Rückseite schon überall mit Schimmelflecken übersät, die sich langsam wie ein Ausschlag über die gesamte Fläche ausbreiteten.
Aber die Vorderseite des Bildes war in Ordnung gewesen und der Verkäufer in dem modrig riechenden Army Supply Shop hatte Tony Braun nach einigen handfesten Argumenten auch Auskunft über den Künstler gegeben und ihm das Bild überlassen. Der Sprayer Jonas Blau war zweifellos talentiert, denn er hatte mit einigen wenigen gesprayten Farbflächen eine unglaublich aggressive Atmosphäre erzeugt. Zwei Boxer standen sich gegenüber, die Köpfe zueinander gedreht und aus ihren offenen Mündern schossen orangefarbene Flammen, die sich in der Mitte des Bildes kreuzten und ein brennendes Herz formten. Einer der Boxer hatte ein umgedrehtes brennendes Kreuz auf seiner Hose, der andere ein Segelschiff mit brennendem Mast. Rechts unten hatte Jonas das Bild mit seiner Signatur, seinem Tag , versehen.
Es war ein verdammtes Glück gewesen, dass Braun in der Nacht zuvor noch einen Abstecher zum Anatolu Grill gemacht hatte und dann zu Fuß am Hafen entlangspaziert war, um die bisherigen Erkenntnisse wieder auf die Reihe zu kriegen. Als er an dem Army Supply Shop vorbeigekommen war, hatte er sich zunächst nichts weiter gedacht. Er hatte die US-Springerstiefel in der Auslage betrachtet, war dann weitergegangen. Doch in seinem Hinterkopf hatte sich ein Bild festgesetzt und auf dem Weg zum Anatolu Grill, um sich bei einigen Bieren die Zeit bis zu seinem „Long Distance Call“ mit Kim Klinger zu vertreiben, hatte sich dieses Bild verfestigt und Braun war zu dem Army Supply Shop zurückgelaufen und wusste schon auf dem Weg dorthin, dass er etwas gesehen hatte, das ihn zu Jonas Blau führen würde.
Doch er musste noch bis zum nächsten Morgen warten, um das Bild, das zur Dekoration im Schaufenster hing, genauer unter die Lupe nehmen zu können. Der Besitzer des Ladens zeigte sich wenig kooperativ, als Braun in den Laden gekommen war. Er stand auf einer Leiter und schraubte Glühbirnen in einen vorsintflutlichen Kronleuchter. Als Braun ihn nach dem Bild und dem Sprayer gefragt hatte, war der Mann ziemlich patzig geworden.
„Ich verpfeife keinen dieser Künstler an
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