Alle Orte, die man knicken kann
die Löcher dafür, und da hatte es ihm gereicht. Gott, so ist es in der heiligen Schrift Edda verbürgt, trieb sein Pferd zu einer letzten verzweifelten Kraftanstrengung und hob ab in den Himmel. Er verließ diese Insel für immer und ist nie mehr hierher zurückgekehrt. Der letzte Gruß seines Pferdes, ein Abdruck der rechten Hinterhand, ist die hufeisenförmige Schlucht Ásbyrgi, wo man jetzt endlich, aber viel zu spät, Tankstelle, Supermarkt und Golfplatz errichtet hat. Gott kommt nicht mehr, nur Elfen tanzen hier gelegentlich. Sie sind übrigens sehr klein, etwa so groß wie Mücken, in ebensolchen Schwärmen auftretend und genauso gierig nach Blut und vielleicht sogar identisch damit. Netze helfen.
Gott konnte weg. Anders als er verfügen die meisten Reisenden nicht über achtbeinige Pferde. Sie müssen immer noch mehr Lavafelder durchqueren, sich auf weiteren Schotterpisten durchrütteln lassen (feuchte Stellen sind mit Wellblech abgedeckt), schwarze Felsnadeln umfahren und sanddurchwehte Dörfer passieren. Sie müssen mit Touristenbooten in den Gletschersee Jökulsárlon tauchen und wie alle anderen «jahrtausendealtes Eis» in die Hand nehmen. Sie müssen, denn es bleibt noch Zeit bis zur Abreise, die Bauernhäuser im Heimatmuseum von Skogar betrachten inklusive der extrem spannenden Dauerausstellung «Transportwesen in Island» und der Möglichkeit, im Shop eine gestreifte Kittelblusezu erstehen. Viele Reisende fordern an dieser Stelle ultimativ die Bereitstellung eines achtbeinigen Flugrosses. Aber es geht immer noch weiter. Erst kommt noch der Gulfoss, der meistfotografierte Wasserfall, der wegen seiner Breite und Tiefe zu den suizidalen Top Ten der Insel zählt und international als
Lovers’ Leap
zu Ruhm gekommen ist, also als finales Absprunggebiet romantischer Paare, die hier den Höhepunkt ihres Glücks verewigen. Eine interessante Alternative ist der Geysir Strokkur im Haukadalur: Er wird von Paaren aufgesucht, die sich trennen möchten, auch von erwachsenen Kindern, denen die Pflege der Schwiegereltern zu teuer wird. Immer wieder kommt es vor, dass jemand unnatürlich stolpert und in den Tümpel gleitet, aus dem unmittelbar danach (zuverlässig alle sechs Minuten) eine thermische Wassersäule emporschießt, bis zu zwanzig Meter hoch, sodass das entsorgte Familienmitglied für einen Moment wie ein Tischtennisball auf der Gischtspitze tanzt. Dieser spektakuläre, wenn auch unfreiwillige Tanzakt wird häufiger mitgefilmt als der anschließende Aufprall beim plötzlichen Versiegen der Fontäne.
Eine letzte gern genutzte Möglichkeit ist die tektonische Spalte im Gebiet um Thingvellir. Die Spalte klafft zwischen europäischer und amerikanischer Kontinentalplatte. Bei ihrem unsanften Zusammenprall entstand als geologischer Kollateralschaden die Insel Island. Ein Informationszentrum am Aussichtspunkt zeigt, wie das passieren konnte und was man in Zukunft dagegen zu tun gedenkt. Eine beliebte Brücke führt über einen trüben Fluss namens Öxará, in den Touristen gern heimische Münzen werfen, um den Quecksilbergehalt des Wassers zu erhöhen. Wer die Brücke in einer kleinen Gruppe nach Dämmerung überquert, gilt bei der Parkwächtern als mystisches Fabelwesen, denn schon häufig hat sich die Gruppe bei der Rückkehr auf zauberische Weise um eine Person vermindert.
Bleibt noch Reykjavik, das seine glorreichen Zeiten vor zehn Jahren hatte, als die Pleite des Landes noch nicht so offensichtlich war. Vom damals berühmten Nachtleben sind jetzt ein paar zugeklebte Schaufenster und verrammelte Türen geblieben. Stattdessen muss man sich nun die Hallgrimskirche ansehen und die Laugarvegur entlangwandern, die als Flaniermeile gilt und ungefähr so viel Charme versprüht wie die Einkaufszone in einer deutschen Kleinstadt. Als sehenswert gilt Bürgermeister Jón Gnarr, der mit einer Spaßpartei die letzten Wahlen gewann. Sein Wahlziel «offene statt versteckte Korruption» vermochte er selbst zwar nur kurz durchzuhalten; versteckt macht sich doch besser. Aber seine Vorliebe für originelle Frisuren ist geblieben, ebenso wie das Bekenntnis zu Hochprozentigem, dessen betäubenden Genuss er zur «produktiven Widerspenstigkeit» ausrief. Hier, erkennen die Reisenden, haben andere europäische Länder noch Nachholbedarf.
Russland
I n der Stadt Petersburg werden pro Jahr mehr Morde begangen als in Deutschland insgesamt. Eigentlich Grund genug, einmal hinzufahren und die Quote live zu erleben, die ungefähr der
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