Alle Orte, die man knicken kann
Umfragen dafür dankbar. Das Land gilt auch bei eingefleischten Lokalpatrioten als trübsinnig und bedrückend. Es besteht vorwiegend aus Schutt und Asche. Bäume gibt es nicht, nur geducktes Gebüsch und kriechende Flechten. Selbst im Juli steigt die Durchschnittstemperatur ungern über zehn Grad. Europäische Reiseveranstalter empfehlen für den Hochsommer Wollpullover, Strickjacke, Mütze, Schal, sturmfeste Regenkleidung, Handschuhe und Gummistiefel. Bei Reisen mit dem Auto habe sich außerdem die Mitnahme von Schlafsäcken bewährt, denn außerhalb von Reykjavik sei das Land dünn besiedelt, die Schotterpisten zwängen selbst hochrädrige Fahrzeuge zum Kollaps, und die wenigen Pensionen würdenvon Lebewesen geführt, deren Aussehen und Verhalten nur mit der berüchtigten isländischen Inzucht erklärbar sei.
Warum Leute freiwillig auf diese Insel reisen, versucht seit Jahren eine staatliche Kommission zu durchleuchten, die bislang lediglich für den dänischen Tourismus mit einer Erklärung aufwarten kann. Kopenhagens Königin Margrethe hat allen Dänen, die eine Rückkehr Islands ins Königreich fordern, einen Besuch auf der Insel empfohlen. Über neunzig Prozent der Reisenden vertreten nach dem Besuch die Ansicht, eine Rückkehr Islands zu Dänemark müsse für alle Zeit ausgeschlossen bleiben. Ähnlich ist wohl die Empfehlung des Verbandes amerikanischer Psychotherapeuten zu verstehen. Die Heiler verschreiben schwermütigen Klienten einen dreitägigen Besuch auf Island. «Anschließend werden Sie sich überall auf der Welt wohl und gewärmt fühlen.»
Europäische Reisende gehen eher versehentlich an Land, etwa wenn ihr Kreuzfahrtschiff zum Tanken anlegt. Eine Minderheit kreuzt geologisches Interesse an. Als kulturelle Highlights werden vier Torfgehöfte und drei Torfkirchen versprochen, ferner zwei Leuchttürme, zwei Heimatmuseen und das Heringsmuseum in Siglufjördur. Tierfreunde kommen wegen der Wale, die in den Küstengewässern erfolgreich harpuniert werden (pro Saison hundert Minkewale und hundertfünfzig Finnwale, Mitfahrgelegenheit nur für ausgewiesene Greenpeace-Gegner!). Vogelliebhaber kommen auf ihre Kosten, wenn sie die lustigen Papageientaucher beobachten oder vielmehr essen, denn die gefiederten Freunde werden von den Insulanern mit Vorliebe gegrillt serviert. Ausnahmslos alle Besucher, auch diejenigen ohne auffallende Tierliebe, finden unschwer Kontakt zu den winzigen heimischen Stechmücken, die in Nase, Ohren und Augen kriechen und Krankheiten übertragen, die in spezialisierten Kliniken unter Quarantäne behandelt werden (private Kassen).
Die Umrundungen von Halbinseln, Fjorden und erodierten Bergen auf sogenannten Ringstraßen erfolgt gewöhnlich in ergiebigem Regen, der nur in den einspurigen Tunneln unterbrochen wird. Befahrbare Trassen sind rar, sodass auch Einzelreisende immer wieder denselben Bussen, Wohnmobilen und betrunkenen Gruppen begegnen, die alle dieselben Parkplätze bei denselben Erdspalten und Gletscherseen ansteuern.
Als erster Pflichtpunkt gilt gewöhnlich der Snæfellsjökull, zu Deutsch Schneeberggletscher, am westlichen Ende der Halbinsel Snæfellsness. Außer auf Postkarten ist er nie zu sehen. Er zählt zu den von der Reiseschriftstellerin Freya Stark gesammelten «33 Sehenswürdigkeiten, die ständig von Wolken umhüllt sind». Immerhin kann man auf dem Weg zum unsichtbaren Gipfel den von Geröll eingefassten Hvalfjörður umrunden und sich am sogenannten Seehundstrand Ytri Tunga verwundert fragen, wo all die lieben grauen Robben geblieben sind. Der Herr im ufernahen Imbisswagen reicht gern die Antwort kleingehackt über den Tresen; trotz der Senfsoße bleibt ein traniger Nachgeschmack. In Stykkishólmur ist abermals Phantasie gefragt: Wie sähe der berühmte pittoreske Blick über den Breiðafjörður wohl aus, wenn er nicht verhangen wäre? Auch hier können nur Postkarten helfen, das Wetter nicht. Die in den Führern gerühmte Traumstraße an der Nordküste der Halbinsel in Richtung Grundarfjörður wird unvermeidlich in dichtem Nebel zurückgelegt. Nur Unkundige bedauern das; Kenner schätzen das Urtümliche der Erfahrung, zumal auch ohne Nebel nichts zu sehen wäre. In Ólafsvik verkünden einzementierte Schilder, das Whale Watching falle an diesem Tag wegen schlechten Wetters aus. Das ist keine tagesaktuelle Bekanntmachung, sondern eine ständige Vorsichtsmaßnahme gegen die unerwünschte Einmischung des World Wildlife Fund. In Wahrheit findet jeden Tag
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