Alle Orte, die man knicken kann
Jahresquote der im Fernsehen gezeigten Morde entspricht. Touristen sind jedoch häufig enttäuscht, weil sie von Stechereien, Schießereien und Verfolgungsjagden wenig mitbekommen. Reisende begegnen der russischen Mafia, deren Hauptstadt Petersburg ist, eher in ziviler Form, nämlich in Person von Hoteliers, Restaurantchefs und Polizisten und nur bei speziellem Interesse auch in Gestalt von Bordellbetreibern, Drogendealern und Kinderhändlern. Petersburg ist eine der korruptesten Städte in einem der korruptesten Länder der Welt. Warum auch nicht? Irgendeine Stadt muss diese Rolle ja spielen. Und diese scheint glänzend geeignet, weil sie von einem der blutrünstigsten Zaren, Peter dem Großen, unter Aufopferung Hunderttausender von Menschenleben aus den Newa-Sümpfen erbaut wurde. Petersburg stehe nicht auf Pfählen, äußerte der Poet Alexander Puschkin, sondern auf Skeletten.
Immerhin, die Stadt steht. Sie wird von der mit Mauern eingefassten Newa durchflossen, die von ein paar Nebenflüsschen und zahllosen Abwasserkanälen gespeist wird, sodass Fremdenführervon einem Venedig des Nordens sprechen. Touristen wandern gewöhnlich den Newski-Prospekt entlang und schauen links und rechts in die Seitenstraßen. Am kreuzenden Gribojedow-Kanal steht die zwiebelig gekrönte Bluts- oder Auferstehungskirche (
Spas na Krowi
), außen groß und bunt, innen ein mattes Museum. Auf der anderen Seite die von Touristen noch stärker heimgesuchte
Isaakskathedrale
, ein Kuppelbau, von dessen Galerie aus man die Stadt fotografiert. Am Fluss schließlich die
Eremitage
, die bedeutendste Sammlung von Raubkunst in Russland. Gegenüber liegt eine Festung (
Peter und Paul
genannt), von der um 12 Uhr ein Kanonenschuss abgefeuert wird. Aber hallo.
Und das war es, und weil es das war, müssen bei mehrtägigem Aufenthalt auch noch Museen besucht werden (für russische Geschichte oder für russische Trachten oder eingelegte Tiere). Und es werden Ausflüge angepriesen, etwa zum
Katharinenpalast
, in dem sich bis zum Zweiten Weltkrieg ein mit Bernstein tapeziertes Zimmer befunden haben soll. Gezeigt wird jetzt ein Nachbau aus lauter Bernsteinplättchen, der sehr hübsch dem Raucherraum einer schäbigen kleinen Kneipe gleicht.
Was gibt es zu essen? Borschtsch mit Smetana, Blini und undurchsichtige Suppen. Echte Russen bevorzugen McDonald’s, Subway und Kentucky Rostiks. Auch hier schmeckt alles eigentümlich anders, um nicht zu sagen russisch. Es gibt Shopping Center und ein Buchhaus (Dom Knigi), in dem man im Web surfen kann. Wer wissen will, warum die Russen so schwermütig sind, muss sich nur die Tastatur ansehen und dann versuchen, sie in ein europäisches Layout zu bringen. Wer sich endgültig der Depression hingeben möchte, besucht eine Ballettaufführung in der Oper oder, aber das hat dann schon finalen Charakter, nimmt den Nachtzug nach Moskau.
Tschechien
F ür die einen ist es die Stadt des Bieres und der Speckknödel. Für die anderen ein Disneyland zu überhöhten Eintrittspreisen. Für den Reiseschriftsteller Bruce Chatwin war sie «eine einzige Touristenfalle». Für den Kollegen Rilke ein Grund, wegzuziehen. Dem dichtenden Präsidenten Václav Havel schien im rauchigen Winternebel jedes Atemholen in den Straßen «wie ein geteerter Lungenzug». Das meinte er positiv. Taschendiebe nennen Prag die «goldene Stadt». Sieben Millionen Touristen pro Jahr kommen mit vollen Taschen und großen Erwartungen und sind dankbar, wenn sie von beidem befreit wieder nach Hause fahren dürfen.
Das muss man unbedingt verpassen
Altstädter Ring. Der Neppstädter Ring ist ein Platz rund um das Rathaus in der
Neppstadt
, wie die Fremdenführer die Altstadt freimütig nennen. Denn hier ist nichts echt, nichts ehrlich, nichts seinen Preis wert. Selbst einheimische Taschendiebe sindsich zu fein, hier zu klauen. Ihnen ist es hier zu einfach. Die aus Ungarn und Rumänien einreisenden Clans kennen solchen Dünkel nicht. Sie erzielen hier einkommensteuerpflichtige Umsätze. Auf diesem meistbesuchten Platz der Stadt versammelt sich die Menge jeweils eine Viertelstunde vor Gongschlag an der Südseite des Rathauses, um offenen Mundes nach oben zu starren, auf die Astronomische Uhr. Dort öffnet sich zur vollen Stunde ein Türchen, und zu einem verstimmten Glockenspiel ziehen Jesus plus Apostel (als wetterfeste Plastikkopien) am Zifferblatt der Uhr vorbei. Das dauert eine Minute – reicht aber für eine fingerfertige dreißigköpfige Großfamilie.
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