Alle Rache Will Ewigkeit
überraschend. Und was sich, das ahne ich schon, jetzt zeigen wird.« Charlie wandte sich wieder dem Buch zu und las weiter. Jay und ihre Mutter wurden zu einem Paar gebracht, das dem Kreuzzug Andresons anhing. Hier sollten sie leben. Unpassenderweise hießen sie Blythe, was an blithe – heiter – erinnerte. Mrs. Blythe begleitete Jenna am nächsten Tag zum Lager zurück, damit sie ihre Habseligkeiten holen konnte. Jay war schockiert, wie wenig sie mitbrachten. Die meisten ihrer Kleider und Bücher hatten sie zurückgelassen. Anscheinend waren sie »unangebracht«.
Das Leben wurde ein enger kleiner Tunnel aus Schule, Kirche, Bibelstunden und Bett. Wie sich zeigte, waren die Blythes Mitglieder einer Pfingstsekte, die so streng und engstirnig war, dass Andresons Evangelikale sich dagegen geradezu liberal ausnahmen. Anfangs war Jay wie ein eingesperrtes Tier und wehrte sich wütend gegen die Einschränkungen und Begrenzungen ihrer Freiheit. Aber es brachte nichts. Je mehr sie dagegen ankämpfte, desto strenger wurden die Regeln. Und Jenna war ihr keine Hilfe. Sie hatte eine neue Droge gefunden und konnte nicht genug davon bekommen. Die Drohung, die Jay letztendlich unter Kontrolle brachte, war, dass sie in ein christliches Internat gesteckt würde, wo ihr der Kontakt zu ihrer Mutter untersagt wäre. Jay war hart im Nehmen, aber die Aussicht, die einzige konstante Größe in ihrem Leben zu verlieren, war zu viel. Also gab sie nach und hasste ihr Leben mit einer lodernden Wut, deren Glut nie erstickt wurde.
Ich klammerte mich an den Gedanken, dass es nicht lange dauern konnte. Nichts in meinem Leben hatte das je getan. Männer kamen und gingen, Freunde kamen und gingen, die Räume, in denen ich zu Bett ging und einschlief, wechselten so oft, dass ich selten meine Adresse wusste. Jenna würde sich langweilen, oder jemand würde mit einer besseren Droge oder einem besseren Angebot des Weges kommen, und alles würde sich wieder ändern. Deshalb glaubte ich, dass ich nur abzuwarten brauchte.
Es kam mir nie in den Sinn, dass es schlimmer werden könnte. Wir waren seit etwa acht Monaten bei den Blythes, als ein neuer Mann zu unserem Gebetskreis dazustieß. Man stelle sich einen asketischen Heiligen auf einem italienischen Gemälde des Mittelalters vor, dann hat man einen Begriff von Howard Calder. Nur sahen diese frommen Einsiedler im Vergleich zu Howard aus wie Partylöwen. Vergnügen war eine Erfindung des Teufels, glaubte Howard. Wir waren auf der Erde, um unser Leben der Vermehrung von Gottes Ruhm zu widmen. Durch das Leben unter den Gottlosen prüfte uns der Herr. Ich hielt ihn von Anfang an für eine Scheißnervensäge.
Aber Jenna nicht. Wie jeder Abhängige war sie hinter dem reinen Stoff her. Und Howard Calder war definitiv rein und pur. Zuerst kapierte ich nicht, was da lief. Meine Erfahrung mit Jennas Beziehungen war, dass es meistens nur einiger einleitender Stunden plus Drogen und Alkohols bedurfte. Vom ersten Sex bis zur ständigen Einrichtung, das war oft nur eine Angelegenheit von Tagen. Als Howard vorbeikam und höflich zu meiner Mutter war, begriff ich deshalb nicht, dass dies der Trailer zum Film war – zur Hochzeit. Als sie mir sagte, dass sie heiraten wollten, glaubte ich ihr zuerst nicht. Dann dämmerte mir, dass es wirklich so war, und ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.
Ich hatte gemeint, es könnte nichts Freudloseres geben als den Haushalt der Blythes. Das war, bevor ich Howards Vierzimmerreihenhaus in Roker kennenlernte. Es war, als käme man in einen Schwarzweißfilm – nirgendwo irgendetwas Farbiges. Weiße Wände, beige dreiteilige Couchgarnitur, weiße Küche, weißes Bad. An den Wänden nichts außer Bibelsprüchen. Ich schwöre, was visuelle Eindrücke anging, war der aufregendste Moment, wenn er den Gasofen entzündete und die blauen, roten und gelben Flammen an dem verfärbten Keramikeinsatz leckten. »Das wird dein neues Zuhause sein«, verkündete er. »Du wirst mich mit Mr. Calder anreden. Ich bin nicht dein Vater, und möchte auch nicht, dass die Leute das denken.«
»Scheiß drauf«, war meine Antwort.
Noch nie im Leben war ich so heftig geschlagen worden. Er traf mich so schnell und brutal mit der Faust seitlich am Kopf, dass ich mir auf die Zunge biss. Ich stand benommen da, in den Ohren dröhnte es, und mein Mund füllte sich mit Blut. Ich hatte schon früher Ohrfeigen bekommen, war oft in Schlägereien verwickelt gewesen und mit älteren Kindern
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